Visitirer brüst auf die Tatze, sprach: weg damit! Thu er was seines Amtes ist, saß ab, öfnete seinen Mantelsack, und zeigt ihm alles Stück vor Stück, schärft ihm dabey das Gewissen übers sas und nefas nach- drücklich. Der Defraudationsmäckler zog die Achseln, sprach: er habe kein Faß, son- dern nur ein Fäßlein, das noch dazu immer ledig sey, wo er mit sieben Kindern hin- solle, wenn die iungen Raben nach Brodt schrieen? Das ist was anders, sprach mein Gesellschafter, zog seinen Beutel und verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch folgte diesem rühmlichen Beyspiel, beschämt ein so armseliger Nachtreter zu seyn.
Bißher hatt' ichs noch nicht gewagt den Mann physiognomisch zu beurtheilen. Weil die Kunst ihr Spiel und ihren Spott so oft mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se- hen und Fühleu des Genies, und auf alle windschiefen Ahndungen desselben Verzicht.
Wie
Viſitirer bruͤſt auf die Tatze, ſprach: weg damit! Thu er was ſeines Amtes iſt, ſaß ab, oͤfnete ſeinen Mantelſack, und zeigt ihm alles Stuͤck vor Stuͤck, ſchaͤrft ihm dabey das Gewiſſen uͤbers ſas und nefas nach- druͤcklich. Der Defraudationsmaͤckler zog die Achſeln, ſprach: er habe kein Faß, ſon- dern nur ein Faͤßlein, das noch dazu immer ledig ſey, wo er mit ſieben Kindern hin- ſolle, wenn die iungen Raben nach Brodt ſchrieen? Das iſt was anders, ſprach mein Geſellſchafter, zog ſeinen Beutel und verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch folgte dieſem ruͤhmlichen Beyſpiel, beſchaͤmt ein ſo armſeliger Nachtreter zu ſeyn.
Bißher hatt’ ichs noch nicht gewagt den Mann phyſiognomiſch zu beurtheilen. Weil die Kunſt ihr Spiel und ihren Spott ſo oft mit mir getrieben hatte, that ich aufs Se- hen und Fuͤhleu des Genies, und auf alle windſchiefen Ahndungen deſſelben Verzicht.
Wie
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Viſitirer bruͤſt auf die Tatze, ſprach: weg
damit! Thu er was ſeines Amtes iſt, ſaß
ab, oͤfnete ſeinen Mantelſack, und zeigt ihm
alles Stuͤck vor Stuͤck, ſchaͤrft ihm dabey
das Gewiſſen uͤbers ſas und nefas nach-
druͤcklich. Der Defraudationsmaͤckler zog
die Achſeln, ſprach: er habe kein Faß, ſon-
dern nur ein Faͤßlein, das noch dazu immer
ledig ſey, wo er mit ſieben Kindern hin-
ſolle, wenn die iungen Raben nach Brodt
ſchrieen? Das iſt was anders, ſprach
mein Geſellſchafter, zog ſeinen Beutel und
verehrt ihm einen blanken Gulden. Jch
folgte dieſem ruͤhmlichen Beyſpiel, beſchaͤmt
ein ſo armſeliger Nachtreter zu ſeyn.
Bißher hatt’ ichs noch nicht gewagt den
Mann phyſiognomiſch zu beurtheilen. Weil
die Kunſt ihr Spiel und ihren Spott ſo oft
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/270>, abgerufen am 25.11.2024.
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