bes, von dem die Rede war, in Augenschein zu nehmen. Auf einmal erhob sie einen lauten Schrey, hielt mit iungfräulicher Ver- schämtheit den Fächer vor die Augen, schob sich in ihrem Lehnstuhl zurück, und prote- stirte gegen alles weitere physiognomische Verfahren. Jch begriff nicht was sie da- mit sagen wollte, wie ich aber hernach alle Umstände genauer erwog, fand ich wahr- scheinlich, daß sich durch fleissige Lektüre der Eheviertelstunden, gewisse Jdeale in ihre Jmagination tief hinein gewurzelt hatten, davon sie hier silhouettirte Verjüngungen zu erblicken glaubte. Es verdroß mich nicht wenig, daß durch dieses närrische alibi mein Vortrag unterbrochen wurde, der dahin ge- meinet war, irgend eine aphysiognostische Seele aus dem trägen Schlafe der Unthä- tigkeit zu ermuntern, und zum Studium der Menschenkenntniß und Menschenliebe zu erwecken. Weil durch diesen Zufall
meine
bes, von dem die Rede war, in Augenſchein zu nehmen. Auf einmal erhob ſie einen lauten Schrey, hielt mit iungfraͤulicher Ver- ſchaͤmtheit den Faͤcher vor die Augen, ſchob ſich in ihrem Lehnſtuhl zuruͤck, und prote- ſtirte gegen alles weitere phyſiognomiſche Verfahren. Jch begriff nicht was ſie da- mit ſagen wollte, wie ich aber hernach alle Umſtaͤnde genauer erwog, fand ich wahr- ſcheinlich, daß ſich durch fleiſſige Lektuͤre der Eheviertelſtunden, gewiſſe Jdeale in ihre Jmagination tief hinein gewurzelt hatten, davon ſie hier ſilhouettirte Verjuͤngungen zu erblicken glaubte. Es verdroß mich nicht wenig, daß durch dieſes naͤrriſche alibi mein Vortrag unterbrochen wurde, der dahin ge- meinet war, irgend eine aphyſiognoſtiſche Seele aus dem traͤgen Schlafe der Unthaͤ- tigkeit zu ermuntern, und zum Studium der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe zu erwecken. Weil durch dieſen Zufall
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[253/0261]
bes, von dem die Rede war, in Augenſchein
zu nehmen. Auf einmal erhob ſie einen
lauten Schrey, hielt mit iungfraͤulicher Ver-
ſchaͤmtheit den Faͤcher vor die Augen, ſchob
ſich in ihrem Lehnſtuhl zuruͤck, und prote-
ſtirte gegen alles weitere phyſiognomiſche
Verfahren. Jch begriff nicht was ſie da-
mit ſagen wollte, wie ich aber hernach alle
Umſtaͤnde genauer erwog, fand ich wahr-
ſcheinlich, daß ſich durch fleiſſige Lektuͤre der
Eheviertelſtunden, gewiſſe Jdeale in ihre
Jmagination tief hinein gewurzelt hatten,
davon ſie hier ſilhouettirte Verjuͤngungen zu
erblicken glaubte. Es verdroß mich nicht
wenig, daß durch dieſes naͤrriſche alibi mein
Vortrag unterbrochen wurde, der dahin ge-
meinet war, irgend eine aphyſiognoſtiſche
Seele aus dem traͤgen Schlafe der Unthaͤ-
tigkeit zu ermuntern, und zum Studium
der Menſchenkenntniß und Menſchenliebe
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/261>, abgerufen am 25.11.2024.
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