davon kan ich zur Zeit noch nicht urtheilen. Aber das räum ich ein, daß die Menschen, so wenig sie sonst nach dem Canonisations- fuß leben, dennoch in einem Stück genau gesinnet sind, wie der fromme Bischoff zu Argelopolis. Als dieser den Vicekönig von Mexico gern in einem saubern Kleide be- willkommet hätte, von seinem Hausmeister aber erinnert wurde, daß er sein Feierkleid einem Armen gegeben, und kein anderes vorhanden sey, kehrte der fromme Bischoff den hintern Theil seines Talars vorn hin, damit die verschmuzte Seite nicht in die Augen fiel, und machte in diesem Aufzuge dem Vicekönig seine Aufwartung. So ma- chen wir's alle: die verschmuzte Seite keh- ren wir einwärts, wenn wir Gala machen, suchen sie sorgfältig zu verstecken; wir ver- kleistern und überpinseln unsere sittlichen Fehler, wie unsere Damen die Mißfarbe ihrer Haut. Und wenn unser ganzes Ver-
dienst
davon kan ich zur Zeit noch nicht urtheilen. Aber das raͤum ich ein, daß die Menſchen, ſo wenig ſie ſonſt nach dem Canoniſations- fuß leben, dennoch in einem Stuͤck genau geſinnet ſind, wie der fromme Biſchoff zu Argelopolis. Als dieſer den Vicekoͤnig von Mexico gern in einem ſaubern Kleide be- willkommet haͤtte, von ſeinem Hausmeiſter aber erinnert wurde, daß er ſein Feierkleid einem Armen gegeben, und kein anderes vorhanden ſey, kehrte der fromme Biſchoff den hintern Theil ſeines Talars vorn hin, damit die verſchmuzte Seite nicht in die Augen fiel, und machte in dieſem Aufzuge dem Vicekoͤnig ſeine Aufwartung. So ma- chen wir’s alle: die verſchmuzte Seite keh- ren wir einwaͤrts, wenn wir Gala machen, ſuchen ſie ſorgfaͤltig zu verſtecken; wir ver- kleiſtern und uͤberpinſeln unſere ſittlichen Fehler, wie unſere Damen die Mißfarbe ihrer Haut. Und wenn unſer ganzes Ver-
dienſt
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davon kan ich zur Zeit noch nicht urtheilen.
Aber das raͤum ich ein, daß die Menſchen,
ſo wenig ſie ſonſt nach dem Canoniſations-
fuß leben, dennoch in einem Stuͤck genau
geſinnet ſind, wie der fromme Biſchoff zu
Argelopolis. Als dieſer den Vicekoͤnig von
Mexico gern in einem ſaubern Kleide be-
willkommet haͤtte, von ſeinem Hausmeiſter
aber erinnert wurde, daß er ſein Feierkleid
einem Armen gegeben, und kein anderes
vorhanden ſey, kehrte der fromme Biſchoff
den hintern Theil ſeines Talars vorn hin,
damit die verſchmuzte Seite nicht in die
Augen fiel, und machte in dieſem Aufzuge
dem Vicekoͤnig ſeine Aufwartung. So ma-
chen wir’s alle: die verſchmuzte Seite keh-
ren wir einwaͤrts, wenn wir Gala machen,
ſuchen ſie ſorgfaͤltig zu verſtecken; wir ver-
kleiſtern und uͤberpinſeln unſere ſittlichen
Fehler, wie unſere Damen die Mißfarbe
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/8>, abgerufen am 02.03.2025.
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