vollkommen ähnlich: denn wir haben bey- derseits durch den Gefühlssinn unsere Men- schenkunde erlangt; Er durch sein innres unräsonnirtes Schnellgefühl, ich durch das äußere Schnellgefühl der Faustschläge und Fußtritte, woran es, im sinnbildlichen Ver- stand, meine Zeitgenossen mir niemals, im Physischen aber seit der physiognomischen Periode meines Lebens, nicht haben mangeln lassen. Seitdem physiognomischer Sinn in mir erwacht war und wirkte, und sie nun da stunden gebranntmarkt, die Kammern und Konsistorien, abgefallen war wie wel- kes Herbstlaub alle Ehrfurcht und Hochach- tung, die ich ehedem für sie empfand; da ichs fühlte, daß es Lästerung sey, die gleis- senden Larven der Menschenfreunde und Re- ligionslehrer, für Säulen der Kirche und des Staates zu halten: so dacht' ich, es sey Pflicht meine Erfahrungen laut zu predigen, und Andern meine lumieres zur Lehre und
War-
vollkommen aͤhnlich: denn wir haben bey- derſeits durch den Gefuͤhlsſinn unſere Men- ſchenkunde erlangt; Er durch ſein innres unraͤſonnirtes Schnellgefuͤhl, ich durch das aͤußere Schnellgefuͤhl der Fauſtſchlaͤge und Fußtritte, woran es, im ſinnbildlichen Ver- ſtand, meine Zeitgenoſſen mir niemals, im Phyſiſchen aber ſeit der phyſiognomiſchen Periode meines Lebens, nicht haben mangeln laſſen. Seitdem phyſiognomiſcher Sinn in mir erwacht war und wirkte, und ſie nun da ſtunden gebranntmarkt, die Kammern und Konſiſtorien, abgefallen war wie wel- kes Herbſtlaub alle Ehrfurcht und Hochach- tung, die ich ehedem fuͤr ſie empfand; da ichs fuͤhlte, daß es Laͤſterung ſey, die gleiſ- ſenden Larven der Menſchenfreunde und Re- ligionslehrer, fuͤr Saͤulen der Kirche und des Staates zu halten: ſo dacht’ ich, es ſey Pflicht meine Erfahrungen laut zu predigen, und Andern meine lumieres zur Lehre und
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vollkommen aͤhnlich: denn wir haben bey-
derſeits durch den Gefuͤhlsſinn unſere Men-
ſchenkunde erlangt; Er durch ſein innres
unraͤſonnirtes Schnellgefuͤhl, ich durch das
aͤußere Schnellgefuͤhl der Fauſtſchlaͤge und
Fußtritte, woran es, im ſinnbildlichen Ver-
ſtand, meine Zeitgenoſſen mir niemals, im
Phyſiſchen aber ſeit der phyſiognomiſchen
Periode meines Lebens, nicht haben mangeln
laſſen. Seitdem phyſiognomiſcher Sinn in
mir erwacht war und wirkte, und ſie nun
da ſtunden gebranntmarkt, die Kammern
und Konſiſtorien, abgefallen war wie wel-
kes Herbſtlaub alle Ehrfurcht und Hochach-
tung, die ich ehedem fuͤr ſie empfand; da
ichs fuͤhlte, daß es Laͤſterung ſey, die gleiſ-
ſenden Larven der Menſchenfreunde und Re-
ligionslehrer, fuͤr Saͤulen der Kirche und
des Staates zu halten: ſo dacht’ ich, es ſey
Pflicht meine Erfahrungen laut zu predigen,
und Andern meine lumieres zur Lehre und
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/58>, abgerufen am 16.02.2025.
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