dieser scharfsinnigen Beobachtung allein. Mir kommts vor, als sey der Neister im vierten Tomus von seinem Lehrstuyl herab- gestiegen, und hab sich wieder auf die Lern- bank gesezt. Am Ende, wo man vermu- then sollte, daß der physiognomiche Viel- wisser alle Zweifelsknoten würde gelößt ha- ben, weiß er weit weniger als im ersten Theile; dort spricht er viel zuverläßiger und bestimmter; hier ist des Warnens, daß man seinem Gefühl nicht vertrauen, und an der Gewißheit physiognomischer Urtheile zweifeln solle, kein End. -- Das heißt doch im Grunde zurück gelernt. Und was soll endlich der Lehriünger bey sich geden- ken, wenn er seinen Meister bey Vollen- dung seines Meisterwerks, mit schweizeri- scher Ehrlichkeit, die recht aus dem Jnnern des Herzens vorquillt, über dasselbe ausru- fen hört: O Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist eitel! das ist wahrlich keine sonderliche
Empfeh-
dieſer ſcharfſinnigen Beobachtung allein. Mir kommts vor, als ſey der Neiſter im vierten Tomus von ſeinem Lehrſtuyl herab- geſtiegen, und hab ſich wieder auf die Lern- bank geſezt. Am Ende, wo man vermu- then ſollte, daß der phyſiognomiche Viel- wiſſer alle Zweifelsknoten wuͤrde geloͤßt ha- ben, weiß er weit weniger als im erſten Theile; dort ſpricht er viel zuverlaͤßiger und beſtimmter; hier iſt des Warnens, daß man ſeinem Gefuͤhl nicht vertrauen, und an der Gewißheit phyſiognomiſcher Urtheile zweifeln ſolle, kein End. — Das heißt doch im Grunde zuruͤck gelernt. Und was ſoll endlich der Lehriuͤnger bey ſich geden- ken, wenn er ſeinen Meiſter bey Vollen- dung ſeines Meiſterwerks, mit ſchweizeri- ſcher Ehrlichkeit, die recht aus dem Jnnern des Herzens vorquillt, uͤber daſſelbe ausru- fen hoͤrt: O Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles iſt eitel! das iſt wahrlich keine ſonderliche
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dieſer ſcharfſinnigen Beobachtung allein.
Mir kommts vor, als ſey der Neiſter im
vierten Tomus von ſeinem Lehrſtuyl herab-
geſtiegen, und hab ſich wieder auf die Lern-
bank geſezt. Am Ende, wo man vermu-
then ſollte, daß der phyſiognomiche Viel-
wiſſer alle Zweifelsknoten wuͤrde geloͤßt ha-
ben, weiß er weit weniger als im erſten
Theile; dort ſpricht er viel zuverlaͤßiger
und beſtimmter; hier iſt des Warnens, daß
man ſeinem Gefuͤhl nicht vertrauen, und
an der Gewißheit phyſiognomiſcher Urtheile
zweifeln ſolle, kein End. — Das heißt
doch im Grunde zuruͤck gelernt. Und was
ſoll endlich der Lehriuͤnger bey ſich geden-
ken, wenn er ſeinen Meiſter bey Vollen-
dung ſeines Meiſterwerks, mit ſchweizeri-
ſcher Ehrlichkeit, die recht aus dem Jnnern
des Herzens vorquillt, uͤber daſſelbe ausru-
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iſt eitel! das iſt wahrlich keine ſonderliche
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/200>, abgerufen am 18.12.2024.
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