einem sanften Erröthen, ohne den Mund zu verzerren, oder wies der erwachsenen Töch- ter Art ist, ihre Apologie zu machen, die mütterliche Strafpredigt anhörte. Welche Sittsamkeit allein mich zu des Mädchens Freund würde gemacht haben, wenn ichs nicht bereits gewesen wär: denn ihre lieb- liche Gestalt, und das Zährgen das in ih- rem Auge zitterte, hatten ihre magische Kraft schon an meinem Herzen geäussert, sonderlich das Lezte. Jst doch sonderbar, weiß mir keinen herzanfassendern Anblick, als wenn ich weibliche Zähren aus einem schönen Auge träufeln seh, das dünkt mich Morgenthau auf einer sich aufschliesenden Rose, mein Herz wird ganz im Gefühle ei- nes sanften Entzückens aufgelößt. Bricht aber die Thränenquelle aus altem Mauer- werk hervor, so kühlt mich die Grotte wo- her sie entspringt mehr, als daß sie mein Herz erwärmt, wenigstens ists nur Halbge-
fühl
einem ſanften Erroͤthen, ohne den Mund zu verzerren, oder wies der erwachſenen Toͤch- ter Art iſt, ihre Apologie zu machen, die muͤtterliche Strafpredigt anhoͤrte. Welche Sittſamkeit allein mich zu des Maͤdchens Freund wuͤrde gemacht haben, wenn ichs nicht bereits geweſen waͤr: denn ihre lieb- liche Geſtalt, und das Zaͤhrgen das in ih- rem Auge zitterte, hatten ihre magiſche Kraft ſchon an meinem Herzen geaͤuſſert, ſonderlich das Lezte. Jſt doch ſonderbar, weiß mir keinen herzanfaſſendern Anblick, als wenn ich weibliche Zaͤhren aus einem ſchoͤnen Auge traͤufeln ſeh, das duͤnkt mich Morgenthau auf einer ſich aufſchlieſenden Roſe, mein Herz wird ganz im Gefuͤhle ei- nes ſanften Entzuͤckens aufgeloͤßt. Bricht aber die Thraͤnenquelle aus altem Mauer- werk hervor, ſo kuͤhlt mich die Grotte wo- her ſie entſpringt mehr, als daß ſie mein Herz erwaͤrmt, wenigſtens iſts nur Halbge-
fuͤhl
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einem ſanften Erroͤthen, ohne den Mund zu
verzerren, oder wies der erwachſenen Toͤch-
ter Art iſt, ihre Apologie zu machen, die
muͤtterliche Strafpredigt anhoͤrte. Welche
Sittſamkeit allein mich zu des Maͤdchens
Freund wuͤrde gemacht haben, wenn ichs
nicht bereits geweſen waͤr: denn ihre lieb-
liche Geſtalt, und das Zaͤhrgen das in ih-
rem Auge zitterte, hatten ihre magiſche
Kraft ſchon an meinem Herzen geaͤuſſert,
ſonderlich das Lezte. Jſt doch ſonderbar,
weiß mir keinen herzanfaſſendern Anblick,
als wenn ich weibliche Zaͤhren aus einem
ſchoͤnen Auge traͤufeln ſeh, das duͤnkt mich
Morgenthau auf einer ſich aufſchlieſenden
Roſe, mein Herz wird ganz im Gefuͤhle ei-
nes ſanften Entzuͤckens aufgeloͤßt. Bricht
aber die Thraͤnenquelle aus altem Mauer-
werk hervor, ſo kuͤhlt mich die Grotte wo-
her ſie entſpringt mehr, als daß ſie mein
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/156>, abgerufen am 16.07.2024.
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