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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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das Vehikulum des Verstandes und geprüf-
ter Erfahrung die physiognomische Kunst
zur Ausgeburt zu befördern, wählte er hier-
zu Gefühle desselben Herzens, das seinen
Verstand so oft betrogen hat, und immer
betrügen wird. Nach diesen sind, wie sich
augenscheinlich erweisen läßt, seine physio-
gnomischen Regeln, Bemerkungen und Ur-
theile gemodelt. Alle sind durch die Form
des ihm eignen typus perceptionum ge-
gangen, und daher auf einerley Art abge-
rundet wie die Graupen. Sie enthalten
zwar die ganze Summe seiner Empfindun-
gen über physiognomische Gegenstände, und
so lernen wir aus den vier dicken Bänden
der Fragmente ihren Verfasser nach seiner
Art zu empfinden, zu denken und handeln,
das ist seinen persönlichen Charakter, zur
Gnüge kennen; aber kein Mensch in der
Welt lernt daraus andre Menschen gründ-
lich beurtheilen. Alle Jünger dieses Mei-

sters

das Vehikulum des Verſtandes und gepruͤf-
ter Erfahrung die phyſiognomiſche Kunſt
zur Ausgeburt zu befoͤrdern, waͤhlte er hier-
zu Gefuͤhle deſſelben Herzens, das ſeinen
Verſtand ſo oft betrogen hat, und immer
betruͤgen wird. Nach dieſen ſind, wie ſich
augenſcheinlich erweiſen laͤßt, ſeine phyſio-
gnomiſchen Regeln, Bemerkungen und Ur-
theile gemodelt. Alle ſind durch die Form
des ihm eignen typus perceptionum ge-
gangen, und daher auf einerley Art abge-
rundet wie die Graupen. Sie enthalten
zwar die ganze Summe ſeiner Empfindun-
gen uͤber phyſiognomiſche Gegenſtaͤnde, und
ſo lernen wir aus den vier dicken Baͤnden
der Fragmente ihren Verfaſſer nach ſeiner
Art zu empfinden, zu denken und handeln,
das iſt ſeinen perſoͤnlichen Charakter, zur
Gnuͤge kennen; aber kein Menſch in der
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[203/0203] das Vehikulum des Verſtandes und gepruͤf- ter Erfahrung die phyſiognomiſche Kunſt zur Ausgeburt zu befoͤrdern, waͤhlte er hier- zu Gefuͤhle deſſelben Herzens, das ſeinen Verſtand ſo oft betrogen hat, und immer betruͤgen wird. Nach dieſen ſind, wie ſich augenſcheinlich erweiſen laͤßt, ſeine phyſio- gnomiſchen Regeln, Bemerkungen und Ur- theile gemodelt. Alle ſind durch die Form des ihm eignen typus perceptionum ge- gangen, und daher auf einerley Art abge- rundet wie die Graupen. Sie enthalten zwar die ganze Summe ſeiner Empfindun- gen uͤber phyſiognomiſche Gegenſtaͤnde, und ſo lernen wir aus den vier dicken Baͤnden der Fragmente ihren Verfaſſer nach ſeiner Art zu empfinden, zu denken und handeln, das iſt ſeinen perſoͤnlichen Charakter, zur Gnuͤge kennen; aber kein Menſch in der Welt lernt daraus andre Menſchen gruͤnd- lich beurtheilen. Alle Juͤnger dieſes Mei- ſters

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/203>, abgerufen am 24.11.2024.