gings so still her, als bey einem Leichessen; alle Versuche, dem Fremdling die Zung zu lösen, waren vergebens. Wollt' nichts heraus; dafür aber gings einwärts desto besser. Jch merkt', daß das eine Virtuo- senlaune sey, beschloß daher, mit Fragen nicht in ihn zu dringen, sondern nur zu- weilen einen physiognomischen Akkord an- zuschlagen, um seinen Geist dadurch zu er- wecken. Das gelang nicht eher als gegen Sonnenuntergang, da wir vor dem Haus unter einem Lindenbaum saßen. Kam ein bejahrter Mann angeritten, der vor den Wirthshaus anhielt, einen Trunk begehrt, und darauf seines Weges fortritt.
Das war zuverläßig, fieng ich an, ein Accißeinnehmer, Rechnungsbeamter, oder einer, der in Ziffern und Gelde wühlt, solches ordnet, unterscheidet, in Fächer sortirt und zu Buche bringt, eine ganz ta- bellarische Seele. Sonst ein fein ehrlich
Ge-
N 4
gings ſo ſtill her, als bey einem Leicheſſen; alle Verſuche, dem Fremdling die Zung zu loͤſen, waren vergebens. Wollt’ nichts heraus; dafuͤr aber gings einwaͤrts deſto beſſer. Jch merkt’, daß das eine Virtuo- ſenlaune ſey, beſchloß daher, mit Fragen nicht in ihn zu dringen, ſondern nur zu- weilen einen phyſiognomiſchen Akkord an- zuſchlagen, um ſeinen Geiſt dadurch zu er- wecken. Das gelang nicht eher als gegen Sonnenuntergang, da wir vor dem Haus unter einem Lindenbaum ſaßen. Kam ein bejahrter Mann angeritten, der vor den Wirthshaus anhielt, einen Trunk begehrt, und darauf ſeines Weges fortritt.
Das war zuverlaͤßig, fieng ich an, ein Accißeinnehmer, Rechnungsbeamter, oder einer, der in Ziffern und Gelde wuͤhlt, ſolches ordnet, unterſcheidet, in Faͤcher ſortirt und zu Buche bringt, eine ganz ta- bellariſche Seele. Sonſt ein fein ehrlich
Ge-
N 4
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0199"n="199"/>
gings ſo ſtill her, als bey einem Leicheſſen;<lb/>
alle Verſuche, dem Fremdling die Zung zu<lb/>
loͤſen, waren vergebens. Wollt’ nichts<lb/>
heraus; dafuͤr aber gings einwaͤrts deſto<lb/>
beſſer. Jch merkt’, daß das eine Virtuo-<lb/>ſenlaune ſey, beſchloß daher, mit Fragen<lb/>
nicht in ihn zu dringen, ſondern nur zu-<lb/>
weilen einen phyſiognomiſchen Akkord an-<lb/>
zuſchlagen, um ſeinen Geiſt dadurch zu er-<lb/>
wecken. Das gelang nicht eher als gegen<lb/>
Sonnenuntergang, da wir vor dem Haus<lb/>
unter einem Lindenbaum ſaßen. Kam ein<lb/>
bejahrter Mann angeritten, der vor den<lb/>
Wirthshaus anhielt, einen Trunk begehrt,<lb/>
und darauf ſeines Weges fortritt.</p><lb/><p>Das war zuverlaͤßig, fieng ich an, ein<lb/>
Accißeinnehmer, Rechnungsbeamter, oder<lb/>
einer, der in Ziffern und Gelde wuͤhlt,<lb/>ſolches ordnet, unterſcheidet, in Faͤcher<lb/>ſortirt und zu Buche bringt, eine ganz ta-<lb/>
bellariſche Seele. Sonſt ein fein ehrlich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Ge-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[199/0199]
gings ſo ſtill her, als bey einem Leicheſſen;
alle Verſuche, dem Fremdling die Zung zu
loͤſen, waren vergebens. Wollt’ nichts
heraus; dafuͤr aber gings einwaͤrts deſto
beſſer. Jch merkt’, daß das eine Virtuo-
ſenlaune ſey, beſchloß daher, mit Fragen
nicht in ihn zu dringen, ſondern nur zu-
weilen einen phyſiognomiſchen Akkord an-
zuſchlagen, um ſeinen Geiſt dadurch zu er-
wecken. Das gelang nicht eher als gegen
Sonnenuntergang, da wir vor dem Haus
unter einem Lindenbaum ſaßen. Kam ein
bejahrter Mann angeritten, der vor den
Wirthshaus anhielt, einen Trunk begehrt,
und darauf ſeines Weges fortritt.
Das war zuverlaͤßig, fieng ich an, ein
Accißeinnehmer, Rechnungsbeamter, oder
einer, der in Ziffern und Gelde wuͤhlt,
ſolches ordnet, unterſcheidet, in Faͤcher
ſortirt und zu Buche bringt, eine ganz ta-
bellariſche Seele. Sonſt ein fein ehrlich
Ge-
N 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/199>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.