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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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stiger Natur, flüchtig und schnell, wirksam
wie Hirschhorngeist; aber in Worte über-
getragen, ist und bleibt er schlecht Wasser.
Daher ist mir unbegreiflich, wie die Em-
pfindler das vaterländische Publikum mit
ihrem Geschwätz so lang ungestraft haben
äffen dürfen. Sollt' meiner Meynung
nach sich keiner beygehen lassen, seine Em-
pfindeley aufs Papier zu werfen, und sie
wie ein Kunstgemähld' im Angesicht des
ehrsamen Publikums zur Schau auszustel-
len; denn es giebt nicht zwey Leut' in der
Welt, die ein Ding auf einerley Art em-
pfinden, und neun Zehntel des empfindsa-
men Auswurfs sind nicht werth', von einer
Menschenseel' nachempfunden zu werden.
Die Herzensempfindsamkeit verschließt den
Mund, ströhmt nicht in weitschweifige Ha-
ranguen über, sondern in unausredbare
Herzgefühle; und wenn sie sich ja äussert,
so geschieht das pathognomisch, nicht rheto-

risch. --

ſtiger Natur, fluͤchtig und ſchnell, wirkſam
wie Hirſchhorngeiſt; aber in Worte uͤber-
getragen, iſt und bleibt er ſchlecht Waſſer.
Daher iſt mir unbegreiflich, wie die Em-
pfindler das vaterlaͤndiſche Publikum mit
ihrem Geſchwaͤtz ſo lang ungeſtraft haben
aͤffen duͤrfen. Sollt’ meiner Meynung
nach ſich keiner beygehen laſſen, ſeine Em-
pfindeley aufs Papier zu werfen, und ſie
wie ein Kunſtgemaͤhld’ im Angeſicht des
ehrſamen Publikums zur Schau auszuſtel-
len; denn es giebt nicht zwey Leut’ in der
Welt, die ein Ding auf einerley Art em-
pfinden, und neun Zehntel des empfindſa-
men Auswurfs ſind nicht werth’, von einer
Menſchenſeel’ nachempfunden zu werden.
Die Herzensempfindſamkeit verſchließt den
Mund, ſtroͤhmt nicht in weitſchweifige Ha-
ranguen uͤber, ſondern in unausredbare
Herzgefuͤhle; und wenn ſie ſich ja aͤuſſert,
ſo geſchieht das pathognomiſch, nicht rheto-

riſch. —
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[143/0143] ſtiger Natur, fluͤchtig und ſchnell, wirkſam wie Hirſchhorngeiſt; aber in Worte uͤber- getragen, iſt und bleibt er ſchlecht Waſſer. Daher iſt mir unbegreiflich, wie die Em- pfindler das vaterlaͤndiſche Publikum mit ihrem Geſchwaͤtz ſo lang ungeſtraft haben aͤffen duͤrfen. Sollt’ meiner Meynung nach ſich keiner beygehen laſſen, ſeine Em- pfindeley aufs Papier zu werfen, und ſie wie ein Kunſtgemaͤhld’ im Angeſicht des ehrſamen Publikums zur Schau auszuſtel- len; denn es giebt nicht zwey Leut’ in der Welt, die ein Ding auf einerley Art em- pfinden, und neun Zehntel des empfindſa- men Auswurfs ſind nicht werth’, von einer Menſchenſeel’ nachempfunden zu werden. Die Herzensempfindſamkeit verſchließt den Mund, ſtroͤhmt nicht in weitſchweifige Ha- ranguen uͤber, ſondern in unausredbare Herzgefuͤhle; und wenn ſie ſich ja aͤuſſert, ſo geſchieht das pathognomiſch, nicht rheto- riſch. —

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/143>, abgerufen am 25.11.2024.