zu zerstreuen. Fand hier einen Passagier beym Thee, einen feinen jungen Mann; hielt die Händ' in einander geschlungen; sah vor sich weg immer auf ein Fleck, und schiens nicht zu bemerken, daß ich ihn grüs- set'. Jch vermeynt', er verricht' sein Mor- gengebet, welches mir wohl gefiel, weils eine seltne Erscheinung ist, daß man Leute von einer höhern Klasse als Handwerker und Tagelöhner, wenn sie nicht Amts- und Berufshalber dazu verpflichtet sind, ausserhalb der Kirch in der Stellung der Betenden findet. Bekenn's, daß ich Einer von denen bin, die Andern nicht leicht dies gute Beyspiel geben, obs gleich einen herr- lichen Eindruck auf mich macht, wenn mir's von Andern gegeben wird. Jch wollt' den Mann in seiner Andacht nicht stöhren, saß gegen ihm über, und macht iudeß von seinem Gesicht folgende physio- gnomische Projektion. Kein Dichter; die
Stirn
zu zerſtreuen. Fand hier einen Paſſagier beym Thee, einen feinen jungen Mann; hielt die Haͤnd’ in einander geſchlungen; ſah vor ſich weg immer auf ein Fleck, und ſchiens nicht zu bemerken, daß ich ihn gruͤſ- ſet’. Jch vermeynt’, er verricht’ ſein Mor- gengebet, welches mir wohl gefiel, weils eine ſeltne Erſcheinung iſt, daß man Leute von einer hoͤhern Klaſſe als Handwerker und Tageloͤhner, wenn ſie nicht Amts- und Berufshalber dazu verpflichtet ſind, auſſerhalb der Kirch in der Stellung der Betenden findet. Bekenn’s, daß ich Einer von denen bin, die Andern nicht leicht dies gute Beyſpiel geben, obs gleich einen herr- lichen Eindruck auf mich macht, wenn mir’s von Andern gegeben wird. Jch wollt’ den Mann in ſeiner Andacht nicht ſtoͤhren, ſaß gegen ihm uͤber, und macht iudeß von ſeinem Geſicht folgende phyſio- gnomiſche Projektion. Kein Dichter; die
Stirn
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zu zerſtreuen. Fand hier einen Paſſagier
beym Thee, einen feinen jungen Mann;
hielt die Haͤnd’ in einander geſchlungen;
ſah vor ſich weg immer auf ein Fleck, und
ſchiens nicht zu bemerken, daß ich ihn gruͤſ-
ſet’. Jch vermeynt’, er verricht’ ſein Mor-
gengebet, welches mir wohl gefiel, weils
eine ſeltne Erſcheinung iſt, daß man Leute
von einer hoͤhern Klaſſe als Handwerker
und Tageloͤhner, wenn ſie nicht Amts-
und Berufshalber dazu verpflichtet ſind,
auſſerhalb der Kirch in der Stellung der
Betenden findet. Bekenn’s, daß ich Einer
von denen bin, die Andern nicht leicht dies
gute Beyſpiel geben, obs gleich einen herr-
lichen Eindruck auf mich macht, wenn
mir’s von Andern gegeben wird. Jch
wollt’ den Mann in ſeiner Andacht nicht
ſtoͤhren, ſaß gegen ihm uͤber, und macht
iudeß von ſeinem Geſicht folgende phyſio-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/132>, abgerufen am 16.02.2025.
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