Unbekannte nach langer Unterhandlung zu sprechen. 'S gelingt mir -- ich finde sie! -- Die Sophie! -- Sie wirft die Hand vors Gesicht, als ich in ihr Käm- merlein eintret', um ihre Schamröthe zu verbergen. Ein Zährenstrohm entstürzt ih- ren Augen, und sie sinkt, von heftiger Ge- müthsbewegung ergriffen, auf dem Stuhl zurück, unterstützt ihr Haupt mit dem elfen- beinern Arm, stöhnt und jammert, daß es einen Stein erbarmen möcht'. Jch steh gegen ihr über wie ein stummer Götz, bis der erst' empfindsame Fieberschauer remit- tirt und die Absonderung der Lebensgeister aus dem Blut wiederum frey von Statten geht. Drauf kommts unter uns zu einer Explication, die liebe Sünderin ergänzt mir ihre Geschichte, wie sie wirklich das Opfer für ihre Familie worden sey, ohne diese dadurch retten zu können; weil der Guthsherr, der in gerader Linie von dem
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Unbekannte nach langer Unterhandlung zu ſprechen. ’S gelingt mir — ich finde ſie! — Die Sophie! — Sie wirft die Hand vors Geſicht, als ich in ihr Kaͤm- merlein eintret’, um ihre Schamroͤthe zu verbergen. Ein Zaͤhrenſtrohm entſtuͤrzt ih- ren Augen, und ſie ſinkt, von heftiger Ge- muͤthsbewegung ergriffen, auf dem Stuhl zuruͤck, unterſtuͤtzt ihr Haupt mit dem elfen- beinern Arm, ſtoͤhnt und jammert, daß es einen Stein erbarmen moͤcht’. Jch ſteh gegen ihr uͤber wie ein ſtummer Goͤtz, bis der erſt’ empfindſame Fieberſchauer remit- tirt und die Abſonderung der Lebensgeiſter aus dem Blut wiederum frey von Statten geht. Drauf kommts unter uns zu einer Explication, die liebe Suͤnderin ergaͤnzt mir ihre Geſchichte, wie ſie wirklich das Opfer fuͤr ihre Familie worden ſey, ohne dieſe dadurch retten zu koͤnnen; weil der Guthsherr, der in gerader Linie von dem
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Unbekannte nach langer Unterhandlung zu
ſprechen. ’S gelingt mir — ich finde
ſie! — Die Sophie! — Sie wirft
die Hand vors Geſicht, als ich in ihr Kaͤm-
merlein eintret’, um ihre Schamroͤthe zu
verbergen. Ein Zaͤhrenſtrohm entſtuͤrzt ih-
ren Augen, und ſie ſinkt, von heftiger Ge-
muͤthsbewegung ergriffen, auf dem Stuhl
zuruͤck, unterſtuͤtzt ihr Haupt mit dem elfen-
beinern Arm, ſtoͤhnt und jammert, daß es
einen Stein erbarmen moͤcht’. Jch ſteh
gegen ihr uͤber wie ein ſtummer Goͤtz, bis
der erſt’ empfindſame Fieberſchauer remit-
tirt und die Abſonderung der Lebensgeiſter
aus dem Blut wiederum frey von Statten
geht. Drauf kommts unter uns zu einer
Explication, die liebe Suͤnderin ergaͤnzt
mir ihre Geſchichte, wie ſie wirklich das
Opfer fuͤr ihre Familie worden ſey, ohne
dieſe dadurch retten zu koͤnnen; weil der
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/12>, abgerufen am 16.02.2025.
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