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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

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Er ist Hieroglyphe, wie die egyptischen Denk-
mäler. Trägt wohl mancher Obelist herr-
liche Aufschrift, die gafft der Grübler an,
hat's vor Augen und kan's nicht lesen, weil
die Bedeutsamkeit der krausen Züg' verloh-
ren ist. Käm aber einer, der eine einzi-
ge Zeil entziffern könnt', so wär's keine
Kunst alle zu lesen.

Freund, so gemahnt michs iust mit dem
physiognomischen Ausdruck der Besessenheit.
Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei-
nes notorisch Besessenen vorgezeichnet hätt,
den die frommen Bischöff und Kirchenväter
fleißig in Onyx und Karniol hätten eingra-
ben lassen, daß der Zahn der Zeit daran
nicht nagen können, so wär uns der wahr-
lich! mehr werth als all' Original zur Lip-
pertschen Daktyliothek. Denn so ließ sich
bald der genuine Ausdruck der Verteufe-
lung heraus studiren, und so könnt' man
auch mit Gewißheit bestimmen, ob die Gaß-
nerische von ächtem Schrot und Korn, oder
ob sie postisch sey; aber da fehlt's eben,
Bin ich daher der vesten Meinung, daß
der eigentliche Sitz der Besessenheit, aus
den Gesichtszügen so wenig heraus zu fin-
den sey, als der eigentliche Sitz der Seel'

aus

Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk-
maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr-
liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an,
hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil
die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh-
ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi-
ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine
Kunſt alle zu leſen.

Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem
phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit.
Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei-
nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt,
den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter
fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra-
ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran
nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr-
lich! mehr werth als all’ Original zur Lip-
pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich
bald der genuine Ausdruck der Verteufe-
lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man
auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß-
neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder
ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben,
Bin ich daher der veſten Meinung, daß
der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus
den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin-
den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’

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[56/0062] Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk- maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr- liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an, hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh- ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi- ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine Kunſt alle zu leſen. Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit. Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei- nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt, den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra- ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr- lich! mehr werth als all’ Original zur Lip- pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich bald der genuine Ausdruck der Verteufe- lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß- neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben, Bin ich daher der veſten Meinung, daß der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin- den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’ aus

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/62>, abgerufen am 24.11.2024.