Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

gen; oder sie nach den Vorschlägen des
sinnreichen Verfassers des physiognomischen
Cabinets, durch eine bloße Buchstabenfor-
mel einholen und in ihre Kustodie gleichsam
zurückzaubern können: sondern dem ganzen
Criminalproceß wird eine wichtige Revolu-
tion bevor stehen. Ohne Corpus delicti,
ohne Jnquisition, Zeugenverhör und Folter
zu Erforschung der Wahrheit nöthig zu ha-
ben, wird ein simpler Kopfumriß des Jn-
culpaten, dem Richter Urim und Tummim
seyn, und in sehr verwickelten Fällen wird
man, anstatt eines korpulenten Aktenfasci-
kuls, ein Schattenbild an irgend eine phy-
siognomische Fakultät verschicken, und dar-
über erkennen lassen, mit mehr Zuverläßig-
keit hoffentlich, als drey conforme Urtheile
mit allen rationibus dubitandi et deciden-
di,
nach den Gesetzen des leidigen Herkom-
mannus iemals verheißen können.

Doch vor der Hand ist es zu früh am
Tage, an diese schönen Aussichten zu ge-
denken. Die physiognomische Morgenrö-
the vergüldet iezt nur noch die obern Regio-
nen, wenn es unten im Thale zu tagen be-
ginnt, alsdenn mehreres hiervon; wiewohl
es eher zu wünschen als zu erwarten stehet,

daß

gen; oder ſie nach den Vorſchlaͤgen des
ſinnreichen Verfaſſers des phyſiognomiſchen
Cabinets, durch eine bloße Buchſtabenfor-
mel einholen und in ihre Kuſtodie gleichſam
zuruͤckzaubern koͤnnen: ſondern dem ganzen
Criminalproceß wird eine wichtige Revolu-
tion bevor ſtehen. Ohne Corpus delicti,
ohne Jnquiſition, Zeugenverhoͤr und Folter
zu Erforſchung der Wahrheit noͤthig zu ha-
ben, wird ein ſimpler Kopfumriß des Jn-
culpaten, dem Richter Urim und Tummim
ſeyn, und in ſehr verwickelten Faͤllen wird
man, anſtatt eines korpulenten Aktenfaſci-
kuls, ein Schattenbild an irgend eine phy-
ſiognomiſche Fakultaͤt verſchicken, und dar-
uͤber erkennen laſſen, mit mehr Zuverlaͤßig-
keit hoffentlich, als drey conforme Urtheile
mit allen rationibus dubitandi et deciden-
di,
nach den Geſetzen des leidigen Herkom-
mannus iemals verheißen koͤnnen.

Doch vor der Hand iſt es zu fruͤh am
Tage, an dieſe ſchoͤnen Ausſichten zu ge-
denken. Die phyſiognomiſche Morgenroͤ-
the verguͤldet iezt nur noch die obern Regio-
nen, wenn es unten im Thale zu tagen be-
ginnt, alsdenn mehreres hiervon; wiewohl
es eher zu wuͤnſchen als zu erwarten ſtehet,

daß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0052" n="46"/>
gen; oder &#x017F;ie nach den Vor&#x017F;chla&#x0364;gen des<lb/>
&#x017F;innreichen Verfa&#x017F;&#x017F;ers des phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen<lb/>
Cabinets, durch eine bloße Buch&#x017F;tabenfor-<lb/>
mel einholen und in ihre Ku&#x017F;todie gleich&#x017F;am<lb/>
zuru&#x0364;ckzaubern ko&#x0364;nnen: &#x017F;ondern dem ganzen<lb/>
Criminalproceß wird eine wichtige Revolu-<lb/>
tion bevor &#x017F;tehen. Ohne Corpus delicti,<lb/>
ohne Jnqui&#x017F;ition, Zeugenverho&#x0364;r und Folter<lb/>
zu Erfor&#x017F;chung der Wahrheit no&#x0364;thig zu ha-<lb/>
ben, wird ein &#x017F;impler Kopfumriß des Jn-<lb/>
culpaten, dem Richter Urim und Tummim<lb/>
&#x017F;eyn, und in &#x017F;ehr verwickelten Fa&#x0364;llen wird<lb/>
man, an&#x017F;tatt eines korpulenten Aktenfa&#x017F;ci-<lb/>
kuls, ein Schattenbild an irgend eine phy-<lb/>
&#x017F;iognomi&#x017F;che Fakulta&#x0364;t ver&#x017F;chicken, und dar-<lb/>
u&#x0364;ber erkennen la&#x017F;&#x017F;en, mit mehr Zuverla&#x0364;ßig-<lb/>
keit hoffentlich, als drey conforme Urtheile<lb/>
mit allen <hi rendition="#aq">rationibus dubitandi et deciden-<lb/>
di,</hi> nach den Ge&#x017F;etzen des leidigen Herkom-<lb/>
mannus iemals verheißen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>Doch vor der Hand i&#x017F;t es zu fru&#x0364;h am<lb/>
Tage, an die&#x017F;e &#x017F;cho&#x0364;nen Aus&#x017F;ichten zu ge-<lb/>
denken. Die phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Morgenro&#x0364;-<lb/>
the vergu&#x0364;ldet iezt nur noch die obern Regio-<lb/>
nen, wenn es unten im Thale zu tagen be-<lb/>
ginnt, alsdenn mehreres hiervon; wiewohl<lb/>
es eher zu wu&#x0364;n&#x017F;chen als zu erwarten &#x017F;tehet,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">daß</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0052] gen; oder ſie nach den Vorſchlaͤgen des ſinnreichen Verfaſſers des phyſiognomiſchen Cabinets, durch eine bloße Buchſtabenfor- mel einholen und in ihre Kuſtodie gleichſam zuruͤckzaubern koͤnnen: ſondern dem ganzen Criminalproceß wird eine wichtige Revolu- tion bevor ſtehen. Ohne Corpus delicti, ohne Jnquiſition, Zeugenverhoͤr und Folter zu Erforſchung der Wahrheit noͤthig zu ha- ben, wird ein ſimpler Kopfumriß des Jn- culpaten, dem Richter Urim und Tummim ſeyn, und in ſehr verwickelten Faͤllen wird man, anſtatt eines korpulenten Aktenfaſci- kuls, ein Schattenbild an irgend eine phy- ſiognomiſche Fakultaͤt verſchicken, und dar- uͤber erkennen laſſen, mit mehr Zuverlaͤßig- keit hoffentlich, als drey conforme Urtheile mit allen rationibus dubitandi et deciden- di, nach den Geſetzen des leidigen Herkom- mannus iemals verheißen koͤnnen. Doch vor der Hand iſt es zu fruͤh am Tage, an dieſe ſchoͤnen Ausſichten zu ge- denken. Die phyſiognomiſche Morgenroͤ- the verguͤldet iezt nur noch die obern Regio- nen, wenn es unten im Thale zu tagen be- ginnt, alsdenn mehreres hiervon; wiewohl es eher zu wuͤnſchen als zu erwarten ſtehet, daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/52
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/52>, abgerufen am 24.11.2024.