Gefühl iudieirt, und iedes Urtleil mit dem physiognomischen Richtscheit und Winkel- maas des Meisters ajüstirt hab'. Wenn sichs Wetter in den obern Regionen meines Hauptes nicht bald aufklärt, dürft ich leicht zu meinem physiognomischen Codex so viel Varianten sammlen, als Dr. Kennicot zu seinem hebräischen, und wär noch immer die Frag', welche von unsern beyden Samm- lungen der Welt am meisten Nutz und Frommen brächt. Ueber die ganze Tapete linker Hand in meinem Kloset, beym Schreibtisch, bestehend aus 24 verjüngten Silhouetten meiner benachbaiten Freund' beyderley Geschlechts, hat mein Spleen ein Air von Stumpfheit, Schiefheit, Gedrängt- heit, Verworrenheit ausgebreitet, davon ich vorher nie etwas wähnte; alles erscheint mir nun verschoben und wirrt gegen einan- der. Dabey stellt mir die Phantasey ganz unwillkührlich so viel Thierähnlichkeiten die- ser Bildlein vors Gesicht, daß ich mir's nicht wehren kann, aus diesem und ienen Horn- und Stoßkraft der Stier und Wid- der, oder Schaafsköpfige Dummheit; an andern Haasigen Benagungshunger, Hirsch- mäßige Horchsamkeit, Dachshaftes unedles
bos-
Gefuͤhl iudieirt, und iedes Urtleil mit dem phyſiognomiſchen Richtſcheit und Winkel- maas des Meiſters ajuͤſtirt hab’. Wenn ſichs Wetter in den obern Regionen meines Hauptes nicht bald aufklaͤrt, duͤrft ich leicht zu meinem phyſiognomiſchen Codex ſo viel Varianten ſammlen, als Dr. Kennicot zu ſeinem hebraͤiſchen, und waͤr noch immer die Frag’, welche von unſern beyden Samm- lungen der Welt am meiſten Nutz und Frommen braͤcht. Ueber die ganze Tapete linker Hand in meinem Kloſet, beym Schreibtiſch, beſtehend aus 24 verjuͤngten Silhouetten meiner benachbaiten Freund’ beyderley Geſchlechts, hat mein Spleen ein Air von Stumpfheit, Schiefheit, Gedraͤngt- heit, Verworrenheit ausgebreitet, davon ich vorher nie etwas waͤhnte; alles erſcheint mir nun verſchoben und wirrt gegen einan- der. Dabey ſtellt mir die Phantaſey ganz unwillkuͤhrlich ſo viel Thieraͤhnlichkeiten die- ſer Bildlein vors Geſicht, daß ich mir’s nicht wehren kann, aus dieſem und ienen Horn- und Stoßkraft der Stier und Wid- der, oder Schaafskoͤpfige Dummheit; an andern Haaſigen Benagungshunger, Hirſch- maͤßige Horchſamkeit, Dachshaftes unedles
bos-
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Gefuͤhl iudieirt, und iedes Urtleil mit dem
phyſiognomiſchen Richtſcheit und Winkel-
maas des Meiſters ajuͤſtirt hab’. Wenn
ſichs Wetter in den obern Regionen meines
Hauptes nicht bald aufklaͤrt, duͤrft ich leicht
zu meinem phyſiognomiſchen Codex ſo viel
Varianten ſammlen, als Dr. Kennicot zu
ſeinem hebraͤiſchen, und waͤr noch immer die
Frag’, welche von unſern beyden Samm-
lungen der Welt am meiſten Nutz und
Frommen braͤcht. Ueber die ganze Tapete
linker Hand in meinem Kloſet, beym
Schreibtiſch, beſtehend aus 24 verjuͤngten
Silhouetten meiner benachbaiten Freund’
beyderley Geſchlechts, hat mein Spleen ein
Air von Stumpfheit, Schiefheit, Gedraͤngt-
heit, Verworrenheit ausgebreitet, davon ich
vorher nie etwas waͤhnte; alles erſcheint
mir nun verſchoben und wirrt gegen einan-
der. Dabey ſtellt mir die Phantaſey ganz
unwillkuͤhrlich ſo viel Thieraͤhnlichkeiten die-
ſer Bildlein vors Geſicht, daß ich mir’s
nicht wehren kann, aus dieſem und ienen
Horn- und Stoßkraft der Stier und Wid-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/130>, abgerufen am 16.02.2025.
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