ten Mann auch wohl zu Zeiten was drücken und wurmen, das ihn verstimmt, so gut wie mich seit zween Tagen. Da heftet stracks seine Seel all' ihre Aufmerksamkeit auf Diskrepanzen und Dissonanzen der Ge- sichtsformen, die ihm vorkommen, merkt ieden Flecken den sie bey guter Laun' überse- hen hätt, und dann übt die Phantasie ihre gewöhnliche Taschenspielerey, macht aus einer Mück' ein Nashorn, verwischt all' aufs Gute deutende Züg', und skizzirt eine scheußliche Frazze hin, mit allen Attributen der Tück und Bosheit. Jst also kein Wun- der, wenn solch Jdeal den lieben Mann baugt und das Herz engt, daß ihm ganz weh drum wird und er 'naus muß, frische Luft zu schöpfen.
Hab's an mir selbst erfahren, was die Stimmung der Seel', Laun' oder Humor, für Einfluß auf physiognomisch Urtheil hab'. Seit den paar Tagen daß ich übler Laune bin, les' ich fast iedes Gesicht meiner Freund und Bekannten, aus der Nachbarschaft um- her, anders als sonst; sind gleichwohl die nämlichen Züg und Linien, die ich all' schon hundertmal überschaut, auch einzeln und in ihrer Zusammenfügung nach dem innren
Gefühl
ten Mann auch wohl zu Zeiten was druͤcken und wurmen, das ihn verſtimmt, ſo gut wie mich ſeit zween Tagen. Da heftet ſtracks ſeine Seel all’ ihre Aufmerkſamkeit auf Diſkrepanzen und Diſſonanzen der Ge- ſichtsformen, die ihm vorkommen, merkt ieden Flecken den ſie bey guter Laun’ uͤberſe- hen haͤtt, und dann uͤbt die Phantaſie ihre gewoͤhnliche Taſchenſpielerey, macht aus einer Muͤck’ ein Nashorn, verwiſcht all’ aufs Gute deutende Zuͤg’, und ſkizzirt eine ſcheußliche Frazze hin, mit allen Attributen der Tuͤck und Bosheit. Jſt alſo kein Wun- der, wenn ſolch Jdeal den lieben Mann baugt und das Herz engt, daß ihm ganz weh drum wird und er ’naus muß, friſche Luft zu ſchoͤpfen.
Hab’s an mir ſelbſt erfahren, was die Stimmung der Seel’, Laun’ oder Humor, fuͤr Einfluß auf phyſiognomiſch Urtheil hab’. Seit den paar Tagen daß ich uͤbler Laune bin, leſ’ ich faſt iedes Geſicht meiner Freund und Bekannten, aus der Nachbarſchaft um- her, anders als ſonſt; ſind gleichwohl die naͤmlichen Zuͤg und Linien, die ich all’ ſchon hundertmal uͤberſchaut, auch einzeln und in ihrer Zuſammenfuͤgung nach dem innren
Gefuͤhl
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ten Mann auch wohl zu Zeiten was druͤcken
und wurmen, das ihn verſtimmt, ſo gut
wie mich ſeit zween Tagen. Da heftet
ſtracks ſeine Seel all’ ihre Aufmerkſamkeit
auf Diſkrepanzen und Diſſonanzen der Ge-
ſichtsformen, die ihm vorkommen, merkt
ieden Flecken den ſie bey guter Laun’ uͤberſe-
hen haͤtt, und dann uͤbt die Phantaſie ihre
gewoͤhnliche Taſchenſpielerey, macht aus
einer Muͤck’ ein Nashorn, verwiſcht all’
aufs Gute deutende Zuͤg’, und ſkizzirt eine
ſcheußliche Frazze hin, mit allen Attributen
der Tuͤck und Bosheit. Jſt alſo kein Wun-
der, wenn ſolch Jdeal den lieben Mann
baugt und das Herz engt, daß ihm ganz
weh drum wird und er ’naus muß, friſche
Luft zu ſchoͤpfen.
Hab’s an mir ſelbſt erfahren, was die
Stimmung der Seel’, Laun’ oder Humor,
fuͤr Einfluß auf phyſiognomiſch Urtheil hab’.
Seit den paar Tagen daß ich uͤbler Laune
bin, leſ’ ich faſt iedes Geſicht meiner Freund
und Bekannten, aus der Nachbarſchaft um-
her, anders als ſonſt; ſind gleichwohl die
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/129>, abgerufen am 08.07.2024.
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