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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der
Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh-
rend der Bauer gleichgültig und stumpf daran vorüber-
geht, ist man versucht, dem zuzustimmen. In Japan
aber ist der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der
besseren Klassen, hier ist er angeboren, und der Tag-
löhner besitzt ihn ebenso wie der Professor. Es verging
kein Frühling und kein Herbst, wo nicht mein Koch sich
für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit seinen Kindern
zur Blütenschau nach Ueno oder Dangosaka zu gehen.
Die großen Volksfeste sind Naturfeste, und in Gottes
freier Natur werden sie gefeiert. Da strömen sie hinaus
zu Tausenden, und es ist ein ästhetisch schöner, ein
malerischer Anblick, die schneeig und rosig blühenden
Bäume gegen den tiefblauen Himmel sich abheben zu
sehen und unter ihnen lustwandelnd eine frohbewegte
Menge, Männer und Frauen in festtäglicher Stimmung,
lächelnd und schwatzend, und von ihnen geführt die Kinder
in ihren bunten Kleidern. Auf japanischen Volksfesten
wird ebenso viel Natur gekneipt als auf deutschen Bier.

Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut
seinen Augen weh. Darum ist ihm aller Schmutz ein
Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am
Körper alles blitzblank ist. Die meisten Japaner, auch
Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im
Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der
Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und so peinlich
wird darauf gehalten, als sei es eine religiöse Pflicht,
nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt
man in einem Gasthaus ein, so ist das erste, was einem
angeboten wird, ein Bad, und die bedienende Nesan
mag wohl im stillen manchmal wenig schmeichelhafte
Vergleiche ziehen, wenn der Ijinsan, der Herr Europäer,

wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der
Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh-
rend der Bauer gleichgültig und ſtumpf daran vorüber-
geht, iſt man verſucht, dem zuzuſtimmen. In Japan
aber iſt der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der
beſſeren Klaſſen, hier iſt er angeboren, und der Tag-
löhner beſitzt ihn ebenſo wie der Profeſſor. Es verging
kein Frühling und kein Herbſt, wo nicht mein Koch ſich
für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit ſeinen Kindern
zur Blütenſchau nach Ueno oder Dangoſaka zu gehen.
Die großen Volksfeſte ſind Naturfeſte, und in Gottes
freier Natur werden ſie gefeiert. Da ſtrömen ſie hinaus
zu Tauſenden, und es iſt ein äſthetiſch ſchöner, ein
maleriſcher Anblick, die ſchneeig und roſig blühenden
Bäume gegen den tiefblauen Himmel ſich abheben zu
ſehen und unter ihnen luſtwandelnd eine frohbewegte
Menge, Männer und Frauen in feſttäglicher Stimmung,
lächelnd und ſchwatzend, und von ihnen geführt die Kinder
in ihren bunten Kleidern. Auf japaniſchen Volksfeſten
wird ebenſo viel Natur gekneipt als auf deutſchen Bier.

Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut
ſeinen Augen weh. Darum iſt ihm aller Schmutz ein
Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am
Körper alles blitzblank iſt. Die meiſten Japaner, auch
Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im
Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der
Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und ſo peinlich
wird darauf gehalten, als ſei es eine religiöſe Pflicht,
nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt
man in einem Gaſthaus ein, ſo iſt das erſte, was einem
angeboten wird, ein Bad, und die bedienende Nēſan
mag wohl im ſtillen manchmal wenig ſchmeichelhafte
Vergleiche ziehen, wenn der Ijinſan, der Herr Europäer,

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[77/0091] wie bei uns zu Lande die Schönheiten der Natur in der Regel nur von dem Gebildeten gewürdigt werden, wäh- rend der Bauer gleichgültig und ſtumpf daran vorüber- geht, iſt man verſucht, dem zuzuſtimmen. In Japan aber iſt der Sinn für die Natur nicht ein Vorrecht der beſſeren Klaſſen, hier iſt er angeboren, und der Tag- löhner beſitzt ihn ebenſo wie der Profeſſor. Es verging kein Frühling und kein Herbſt, wo nicht mein Koch ſich für einen Nachmittag Urlaub erbat, um mit ſeinen Kindern zur Blütenſchau nach Ueno oder Dangoſaka zu gehen. Die großen Volksfeſte ſind Naturfeſte, und in Gottes freier Natur werden ſie gefeiert. Da ſtrömen ſie hinaus zu Tauſenden, und es iſt ein äſthetiſch ſchöner, ein maleriſcher Anblick, die ſchneeig und roſig blühenden Bäume gegen den tiefblauen Himmel ſich abheben zu ſehen und unter ihnen luſtwandelnd eine frohbewegte Menge, Männer und Frauen in feſttäglicher Stimmung, lächelnd und ſchwatzend, und von ihnen geführt die Kinder in ihren bunten Kleidern. Auf japaniſchen Volksfeſten wird ebenſo viel Natur gekneipt als auf deutſchen Bier. Das Schöne bietet ihm Genuß, das Häßliche thut ſeinen Augen weh. Darum iſt ihm aller Schmutz ein Greuel, darum hält er darauf, daß im Haus und am Körper alles blitzblank iſt. Die meiſten Japaner, auch Bauern und Taglöhner, nehmen im Sommer täglich, im Winter in der Regel wöchentlich ein Bad. In der Neujahrsnacht badet das ganze Volk, und ſo peinlich wird darauf gehalten, als ſei es eine religiöſe Pflicht, nicht unrein in das neue Jahr hinüberzugehen. Kehrt man in einem Gaſthaus ein, ſo iſt das erſte, was einem angeboten wird, ein Bad, und die bedienende Nēſan mag wohl im ſtillen manchmal wenig ſchmeichelhafte Vergleiche ziehen, wenn der Ijinſan, der Herr Europäer,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/91>, abgerufen am 24.11.2024.