Wenn am Abend die Sonne hinter unsern deutschen Bergen hinabsinkt, reibt sich in Japan mancher gähnend die Augen und wickelt sich schlaftrunken aus den auf den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten des Stillen Oceans und bald erglänzt die schneebedeckte Kuppel des majestätischen Fujinoyama in den goldenen Strahlen der Morgensonne. Wenn es hier Nacht ist, ist es dort Tag. Die Japaner sind unsere Antipoden, unsere Gegenfüßler.
Sie sind aber unsere Antipoden nicht bloß räumlich, sondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die sich bei uns ganz von selbst verstehen, die wir uns gar nicht anders denken können, als wie sie nun einmal sind, sind dort geradezu auf den Kopf gestellt. Mache ich mit einem Japaner einen Spaziergang, so läßt er mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts; denn die Herzseite, die linke, ist in Japan die Ehren- seite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er sich in Galakleidung steckt, so bemerken wir mit Erstaunen, daß er zuerst den langen Mantel, kimono genannt, anzieht und darnach die Hose oder hakama oben drüber. Schauen wir bei dem Neubau eines Hauses zu, so nimmt es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus gelegt ist, die Zimmerleute einstweilen schon das Dach zusammensetzen, wenn auch nur vorläufig, sozusagen zum
III. Geiſtesleben und Erziehungsweſen.
Wenn am Abend die Sonne hinter unſern deutſchen Bergen hinabſinkt, reibt ſich in Japan mancher gähnend die Augen und wickelt ſich ſchlaftrunken aus den auf den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten des Stillen Oceans und bald erglänzt die ſchneebedeckte Kuppel des majeſtätiſchen Fujinoyama in den goldenen Strahlen der Morgenſonne. Wenn es hier Nacht iſt, iſt es dort Tag. Die Japaner ſind unſere Antipoden, unſere Gegenfüßler.
Sie ſind aber unſere Antipoden nicht bloß räumlich, ſondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die ſich bei uns ganz von ſelbſt verſtehen, die wir uns gar nicht anders denken können, als wie ſie nun einmal ſind, ſind dort geradezu auf den Kopf geſtellt. Mache ich mit einem Japaner einen Spaziergang, ſo läßt er mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts; denn die Herzſeite, die linke, iſt in Japan die Ehren- ſeite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er ſich in Galakleidung ſteckt, ſo bemerken wir mit Erſtaunen, daß er zuerſt den langen Mantel, kimono genannt, anzieht und darnach die Hoſe oder hakama oben drüber. Schauen wir bei dem Neubau eines Hauſes zu, ſo nimmt es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus gelegt iſt, die Zimmerleute einſtweilen ſchon das Dach zuſammenſetzen, wenn auch nur vorläufig, ſozuſagen zum
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[[62]/0076]
III. Geiſtesleben und Erziehungsweſen.
Wenn am Abend die Sonne hinter unſern deutſchen
Bergen hinabſinkt, reibt ſich in Japan mancher gähnend
die Augen und wickelt ſich ſchlaftrunken aus den auf
den Boden gebreiteten Decken, die ihm die Stelle eines
Bettes vertreten. Schon dämmert es über den Fluten
des Stillen Oceans und bald erglänzt die ſchneebedeckte
Kuppel des majeſtätiſchen Fujinoyama in den goldenen
Strahlen der Morgenſonne. Wenn es hier Nacht iſt,
iſt es dort Tag. Die Japaner ſind unſere Antipoden,
unſere Gegenfüßler.
Sie ſind aber unſere Antipoden nicht bloß räumlich,
ſondern auch in vielen anderen Beziehungen. Dinge, die
ſich bei uns ganz von ſelbſt verſtehen, die wir uns gar
nicht anders denken können, als wie ſie nun einmal
ſind, ſind dort geradezu auf den Kopf geſtellt. Mache
ich mit einem Japaner einen Spaziergang, ſo läßt er
mich als höflicher Mann links gehen und nicht rechts;
denn die Herzſeite, die linke, iſt in Japan die Ehren-
ſeite. Beobachten wir einen Japaner, wenn er ſich in
Galakleidung ſteckt, ſo bemerken wir mit Erſtaunen, daß
er zuerſt den langen Mantel, kimono genannt, anzieht
und darnach die Hoſe oder hakama oben drüber.
Schauen wir bei dem Neubau eines Hauſes zu, ſo nimmt
es uns wunder, daß, ehe noch ein Grund zum Haus
gelegt iſt, die Zimmerleute einſtweilen ſchon das Dach
zuſammenſetzen, wenn auch nur vorläufig, ſozuſagen zum
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. [62]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/76>, abgerufen am 23.11.2024.
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