in ihrer jetzigen Form ist sie nicht imstande, die euro päische Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Von großer Tragweite ist dabei auch die Änderung des chinesischen Schriftsystems. Die Versuche, das jetzige Schriftsystem durch "Kana", die leichte japanische Silben- schrift, oder "Romaji", die lateinische Schrift, zu ersetzen, sind vorläufig als gescheitert zu betrachten. Das Interesse für die Kana- und Romajibewegung, welches in den achtziger Jahren sehr rege war, ist heute tot, und das ist ein Beweis dafür, daß die Volksseele selbst einer Abänderung widerstrebte.
Das Problem der Abänderung der Schrift ist darum so außerordentlich schwierig, weil die Schrift, so wenig wie die Sprache, etwas rein Mechanisches und Äußer- liches ist, welches man leicht wechseln könnte wie ein Kleid; vielmehr ist es ein psychologisches Problem, um welches es sich dabei handelt. Unsere Schrift ist durchaus abstrakt; unsere Zeichen als solche sagen dem Betrachten- den nichts. Im Chinesischen dagegen ist das Schrift- zeichen konkret; das Zeichen spricht direkt zu dem Be- trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff ist unmittel- bar in dem Zeichen enthalten. Im Chinesischen wird nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be- treffenden Dinge dargeboten, so daß der Betrachtende sinnlich erfaßt, was wir verstandesmäßig zu begreifen gezwungen sind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß, Thor, Flügel etc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder dieser Gegenstände. In andern Fällen enthält das chinesische Zeichen ganze Definitionen, wo unsere ent- sprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres Sinnes geben; so schreibt man drei Bäume für Wald, zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün
in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben- ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen, ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe für die Kana- und Romajibewegung, welches in den achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer Abänderung widerſtrebte.
Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer- liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten- den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift- zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be- trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel- bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be- treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß, Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent- ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald, zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0073"n="59"/>
in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro<lb/>
päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.</p><lb/><p>Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung<lb/>
des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige<lb/>
Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben-<lb/>ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen,<lb/>ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe<lb/>
für die Kana- und Romajibewegung, welches in den<lb/>
achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das<lb/>
iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer<lb/>
Abänderung widerſtrebte.</p><lb/><p>Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum<lb/>ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig<lb/>
wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer-<lb/>
liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein<lb/>
Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um<lb/>
welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus<lb/>
abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten-<lb/>
den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift-<lb/>
zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be-<lb/>
trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel-<lb/>
bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird<lb/>
nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be-<lb/>
treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende<lb/>ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen<lb/>
gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß,<lb/>
Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder<lb/>
dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das<lb/>
chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent-<lb/>ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres<lb/>
Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald,<lb/>
zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein<lb/>
und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün<lb/></p></div></body></text></TEI>
[59/0073]
in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro
päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.
Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung
des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige
Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben-
ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen,
ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe
für die Kana- und Romajibewegung, welches in den
achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das
iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer
Abänderung widerſtrebte.
Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum
ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig
wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer-
liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein
Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um
welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus
abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten-
den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift-
zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be-
trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel-
bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird
nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be-
treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende
ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen
gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß,
Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder
dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das
chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent-
ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres
Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald,
zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein
und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/73>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.