zu sechs und acht Stunden Vorträge anhören können, ohne zu ermüden oder einzuschlafen. Nach dem, was wir hörten, kann uns dieses nicht mehr wunderbar er- scheinen. Es ist die lebendige Anschaulichkeit der Rede, welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis- mäßig langsame und wenig Geistesarbeit erfordernde Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung schützt. Ich war einmal so unvorsichtig, einem Japaner gegenüber zu bemerken, daß eine japanische Predigt für mich leichter sei als eine deutsche, da man nicht so viele Gedanken brauche; eine japanische Predigt, welche eben dieselben Gedanken enthalten solle, wie eine zuvor ent- worfene deutsche, sei unmöglich, da sie kein Ende nehme. Gefallen hat ihm diese Äußerung nicht, aber um so wahrer ist sie gewesen.
Für den Europäer, welcher japanisch sprechen soll, bieten sich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es nicht versteht, sich in den Geist der japanischen Sprache zu versetzen, so redet er leicht abstrakt und langweilig oder aber unverständlich. Andrerseits liegt die Gefahr vor, sich in die Breite zu verlieren; für den, der die Sprache nicht voll beherrscht, liegt der bequeme Gebrauch von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver- führerisch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg- lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeschmackt in einem nicht sehr geschickten Munde. Wir geben hier ein Bei- spiel einer Ausdrucksweise, welche zwar nicht das Extrem des japanischen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in derselben Weise gebraucht werden kann und gebraucht worden ist, welche aber doch ein Bild der japanischen Art bietet. Ein Missionar hielt einen Vortrag über die Allgemeinheit des Bösen und zur Illustration be- merkte er: "Wie sieht es wohl in Tokyo aus? Wenn
zu ſechs und acht Stunden Vorträge anhören können, ohne zu ermüden oder einzuſchlafen. Nach dem, was wir hörten, kann uns dieſes nicht mehr wunderbar er- ſcheinen. Es iſt die lebendige Anſchaulichkeit der Rede, welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis- mäßig langſame und wenig Geiſtesarbeit erfordernde Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung ſchützt. Ich war einmal ſo unvorſichtig, einem Japaner gegenüber zu bemerken, daß eine japaniſche Predigt für mich leichter ſei als eine deutſche, da man nicht ſo viele Gedanken brauche; eine japaniſche Predigt, welche eben dieſelben Gedanken enthalten ſolle, wie eine zuvor ent- worfene deutſche, ſei unmöglich, da ſie kein Ende nehme. Gefallen hat ihm dieſe Äußerung nicht, aber um ſo wahrer iſt ſie geweſen.
Für den Europäer, welcher japaniſch ſprechen ſoll, bieten ſich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es nicht verſteht, ſich in den Geiſt der japaniſchen Sprache zu verſetzen, ſo redet er leicht abſtrakt und langweilig oder aber unverſtändlich. Andrerſeits liegt die Gefahr vor, ſich in die Breite zu verlieren; für den, der die Sprache nicht voll beherrſcht, liegt der bequeme Gebrauch von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver- führeriſch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg- lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeſchmackt in einem nicht ſehr geſchickten Munde. Wir geben hier ein Bei- ſpiel einer Ausdrucksweiſe, welche zwar nicht das Extrem des japaniſchen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in derſelben Weiſe gebraucht werden kann und gebraucht worden iſt, welche aber doch ein Bild der japaniſchen Art bietet. Ein Miſſionar hielt einen Vortrag über die Allgemeinheit des Böſen und zur Illuſtration be- merkte er: „Wie ſieht es wohl in Tokyo aus? Wenn
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zu ſechs und acht Stunden Vorträge anhören können,
ohne zu ermüden oder einzuſchlafen. Nach dem, was
wir hörten, kann uns dieſes nicht mehr wunderbar er-
ſcheinen. Es iſt die lebendige Anſchaulichkeit der Rede,
welche ihn vom Schlaf errettet, und die verhältnis-
mäßig langſame und wenig Geiſtesarbeit erfordernde
Art der Gedankenmitteilung, die ihn vor Ermüdung
ſchützt. Ich war einmal ſo unvorſichtig, einem Japaner
gegenüber zu bemerken, daß eine japaniſche Predigt für
mich leichter ſei als eine deutſche, da man nicht ſo viele
Gedanken brauche; eine japaniſche Predigt, welche eben
dieſelben Gedanken enthalten ſolle, wie eine zuvor ent-
worfene deutſche, ſei unmöglich, da ſie kein Ende nehme.
Gefallen hat ihm dieſe Äußerung nicht, aber um ſo
wahrer iſt ſie geweſen.
Für den Europäer, welcher japaniſch ſprechen ſoll,
bieten ſich daher große Schwierigkeiten. Wenn er es
nicht verſteht, ſich in den Geiſt der japaniſchen Sprache
zu verſetzen, ſo redet er leicht abſtrakt und langweilig
oder aber unverſtändlich. Andrerſeits liegt die Gefahr
vor, ſich in die Breite zu verlieren; für den, der die
Sprache nicht voll beherrſcht, liegt der bequeme Gebrauch
von Lückenbüßern, deren es nicht wenige giebt, ver-
führeriſch nahe; außerdem werden Bilder, der Alltäg-
lichkeit entlehnt, leicht fade und abgeſchmackt in einem
nicht ſehr geſchickten Munde. Wir geben hier ein Bei-
ſpiel einer Ausdrucksweiſe, welche zwar nicht das Extrem
des japaniſchen Ausdrucks giebt, und auch bei uns in
derſelben Weiſe gebraucht werden kann und gebraucht
worden iſt, welche aber doch ein Bild der japaniſchen
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/46>, abgerufen am 24.11.2024.
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