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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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in schwerer Zeit, die für mich kam, treu zur Seite ge-
standen hat. Er hat das Herz wie den Kopf auf der
richtigen Stelle. Wie er von jeher eine der stärksten
Säulen der kleinen Gemeinde war und seiner Sorge
keinem Kranken oder Angefochtenen entgehen ließ, so
wuchs er auch in jedem Monat im christlichen Ver-
ständnis. Für theologische Fragen war er stets Feuer
und Flamme und bedauerte oft, daß ihn die Notwen-
digkeit, bald für seine Familie zu sorgen, vom Studium
der Theologie zurückhalte. In der Bibel erwarb er
sich eine weitgehende Kenntnis und bat mich zugleich
mit anderen Freunden, wissenschaftlich theologische Fragen
auch für Nichttheologen in Nachmittagsstunden zu be-
handeln. So hielt ich nach und nach eine Reihe Vor-
träge über Auferstehung, Johannesevangelium, Offen-
barung Johannis, Apostelgeschichte. Als ich mit der
ersten Vorlesung fertig war, präsentierte er mir ein
fein in chinesischem Stil ausgearbeitetes Heft mit den
Worten: "Dies sind Ihre Vorträge über die Aufer-
stehung". Nach Mitake sandte er mir einen Brief, in
welchem er seine Rückkehr in die Heimat fern an der
Westküste nach langjähriger Abwesenheit schilderte. "Ich
stand", so schreibt er, "auf dem Verdeck des Schiffes.
Der Mond goß sein bleiches Licht über die nahe Küste.
Jede Drehung des Schaufelrades brachte mich der Hei-
mat und den Lieben näher. Ja, da tauchte er auf, der
Berg mit der zackigen Spitze, den ich so oft erklettert,
da sprangen sie ins Meer vor, die gefährlichen Klippen,
um die ich so oft in weitem Bogen gerudert, da zeigte
sich, vom Mondschein hell beleuchtet, die Stadt, wo ich
geboren ward. Es war mir, als steige der Geist meines
Vaters, der, ach, viel zu früh ins Grab sank, am
Strande auf, mich, den langentbehrten Sohn, im Eltern-

in ſchwerer Zeit, die für mich kam, treu zur Seite ge-
ſtanden hat. Er hat das Herz wie den Kopf auf der
richtigen Stelle. Wie er von jeher eine der ſtärkſten
Säulen der kleinen Gemeinde war und ſeiner Sorge
keinem Kranken oder Angefochtenen entgehen ließ, ſo
wuchs er auch in jedem Monat im chriſtlichen Ver-
ſtändnis. Für theologiſche Fragen war er ſtets Feuer
und Flamme und bedauerte oft, daß ihn die Notwen-
digkeit, bald für ſeine Familie zu ſorgen, vom Studium
der Theologie zurückhalte. In der Bibel erwarb er
ſich eine weitgehende Kenntnis und bat mich zugleich
mit anderen Freunden, wiſſenſchaftlich theologiſche Fragen
auch für Nichttheologen in Nachmittagsſtunden zu be-
handeln. So hielt ich nach und nach eine Reihe Vor-
träge über Auferſtehung, Johannesevangelium, Offen-
barung Johannis, Apoſtelgeſchichte. Als ich mit der
erſten Vorleſung fertig war, präſentierte er mir ein
fein in chineſiſchem Stil ausgearbeitetes Heft mit den
Worten: „Dies ſind Ihre Vorträge über die Aufer-
ſtehung“. Nach Mitake ſandte er mir einen Brief, in
welchem er ſeine Rückkehr in die Heimat fern an der
Weſtküſte nach langjähriger Abweſenheit ſchilderte. „Ich
ſtand“, ſo ſchreibt er, „auf dem Verdeck des Schiffes.
Der Mond goß ſein bleiches Licht über die nahe Küſte.
Jede Drehung des Schaufelrades brachte mich der Hei-
mat und den Lieben näher. Ja, da tauchte er auf, der
Berg mit der zackigen Spitze, den ich ſo oft erklettert,
da ſprangen ſie ins Meer vor, die gefährlichen Klippen,
um die ich ſo oft in weitem Bogen gerudert, da zeigte
ſich, vom Mondſchein hell beleuchtet, die Stadt, wo ich
geboren ward. Es war mir, als ſteige der Geiſt meines
Vaters, der, ach, viel zu früh ins Grab ſank, am
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[342/0356] in ſchwerer Zeit, die für mich kam, treu zur Seite ge- ſtanden hat. Er hat das Herz wie den Kopf auf der richtigen Stelle. Wie er von jeher eine der ſtärkſten Säulen der kleinen Gemeinde war und ſeiner Sorge keinem Kranken oder Angefochtenen entgehen ließ, ſo wuchs er auch in jedem Monat im chriſtlichen Ver- ſtändnis. Für theologiſche Fragen war er ſtets Feuer und Flamme und bedauerte oft, daß ihn die Notwen- digkeit, bald für ſeine Familie zu ſorgen, vom Studium der Theologie zurückhalte. In der Bibel erwarb er ſich eine weitgehende Kenntnis und bat mich zugleich mit anderen Freunden, wiſſenſchaftlich theologiſche Fragen auch für Nichttheologen in Nachmittagsſtunden zu be- handeln. So hielt ich nach und nach eine Reihe Vor- träge über Auferſtehung, Johannesevangelium, Offen- barung Johannis, Apoſtelgeſchichte. Als ich mit der erſten Vorleſung fertig war, präſentierte er mir ein fein in chineſiſchem Stil ausgearbeitetes Heft mit den Worten: „Dies ſind Ihre Vorträge über die Aufer- ſtehung“. Nach Mitake ſandte er mir einen Brief, in welchem er ſeine Rückkehr in die Heimat fern an der Weſtküſte nach langjähriger Abweſenheit ſchilderte. „Ich ſtand“, ſo ſchreibt er, „auf dem Verdeck des Schiffes. Der Mond goß ſein bleiches Licht über die nahe Küſte. Jede Drehung des Schaufelrades brachte mich der Hei- mat und den Lieben näher. Ja, da tauchte er auf, der Berg mit der zackigen Spitze, den ich ſo oft erklettert, da ſprangen ſie ins Meer vor, die gefährlichen Klippen, um die ich ſo oft in weitem Bogen gerudert, da zeigte ſich, vom Mondſchein hell beleuchtet, die Stadt, wo ich geboren ward. Es war mir, als ſteige der Geiſt meines Vaters, der, ach, viel zu früh ins Grab ſank, am Strande auf, mich, den langentbehrten Sohn, im Eltern-

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/356>, abgerufen am 25.11.2024.