des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit ist -- schroff gesagt und fein verstanden -- mehr als Gutsein. "Ein unhöflicher Mensch" ist das schwerste Verdammungs- urteil, welches sich fällen läßt. Wer seine Verbeugungen regelrecht macht und in seinen Reden höflich ist, ist ein guter Mensch. Wer wider den Anstand sündigt, hat überhaupt keine Qualität.
Der Japaner ist geradezu peinlich in seiner Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Missionars ist lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen, formellen Anstoß erregt hat. Seine erste Pflicht ist darum nicht das Thun, sondern das Lassen; sie besteht nicht darin, daß er ar- beitet, sondern daß er an sich arbeiten läßt; nicht darin, daß er seine Kraft entfaltet, sondern daß er seine Kraft eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe einen Fall mit durchlebt, wo dieses Versäumnis über einen Missionar eine unglückselige Katastrophe herauf- geführt hat. Die rücksichtslose Entfaltung seiner missio- narischen Energie, welche in ungestümem Thatendrang sich durch keine äußere Autorität, am wenigsten durch die Landessitte, wollte binden lassen, ist ihm selbst und zum Teil auch seiner Mission zum Verderben geworden. "Kommst du in ein fremdes Land, so frage zuerst, was verboten ist", sagt der japanische Volksmund; und wenn es auch der Japaner nicht wünscht, daß der Missionar die Sitte des Landes äffisch nachmacht, so kann doch keiner von einer taktvollen Handhabung derselben ent- bunden werden. Ein alter Veteran auf dem ostasiatischen Missionsgebiet erzählt, wie ein amerikanischer Reisender einst eine Missionsschule besuchte. Die Schüler waren vorher davon in Kenntnis gesetzt worden, daß sie einen durch Charakter und Kenntnisse gleich ausgezeichneten
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des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit iſt — ſchroff geſagt und fein verſtanden — mehr als Gutſein. „Ein unhöflicher Menſch“ iſt das ſchwerſte Verdammungs- urteil, welches ſich fällen läßt. Wer ſeine Verbeugungen regelrecht macht und in ſeinen Reden höflich iſt, iſt ein guter Menſch. Wer wider den Anſtand ſündigt, hat überhaupt keine Qualität.
Der Japaner iſt geradezu peinlich in ſeiner Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Miſſionars iſt lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne es zu wiſſen und zu wollen, formellen Anſtoß erregt hat. Seine erſte Pflicht iſt darum nicht das Thun, ſondern das Laſſen; ſie beſteht nicht darin, daß er ar- beitet, ſondern daß er an ſich arbeiten läßt; nicht darin, daß er ſeine Kraft entfaltet, ſondern daß er ſeine Kraft eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe einen Fall mit durchlebt, wo dieſes Verſäumnis über einen Miſſionar eine unglückſelige Kataſtrophe herauf- geführt hat. Die rückſichtsloſe Entfaltung ſeiner miſſio- nariſchen Energie, welche in ungeſtümem Thatendrang ſich durch keine äußere Autorität, am wenigſten durch die Landesſitte, wollte binden laſſen, iſt ihm ſelbſt und zum Teil auch ſeiner Miſſion zum Verderben geworden. „Kommſt du in ein fremdes Land, ſo frage zuerſt, was verboten iſt“, ſagt der japaniſche Volksmund; und wenn es auch der Japaner nicht wünſcht, daß der Miſſionar die Sitte des Landes äffiſch nachmacht, ſo kann doch keiner von einer taktvollen Handhabung derſelben ent- bunden werden. Ein alter Veteran auf dem oſtaſiatiſchen Miſſionsgebiet erzählt, wie ein amerikaniſcher Reiſender einſt eine Miſſionsſchule beſuchte. Die Schüler waren vorher davon in Kenntnis geſetzt worden, daß ſie einen durch Charakter und Kenntniſſe gleich ausgezeichneten
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des Volks über der Sittlichkeit. Höflichkeit iſt — ſchroff
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unhöflicher Menſch“ iſt das ſchwerſte Verdammungs-
urteil, welches ſich fällen läßt. Wer ſeine Verbeugungen
regelrecht macht und in ſeinen Reden höflich iſt, iſt ein
guter Menſch. Wer wider den Anſtand ſündigt, hat
überhaupt keine Qualität.
Der Japaner iſt geradezu peinlich in ſeiner
Empfindlichkeit, und mancher Mißerfolg des Miſſionars
iſt lediglich darauf zurückzuführen, daß er, vielleicht ohne
es zu wiſſen und zu wollen, formellen Anſtoß erregt
hat. Seine erſte Pflicht iſt darum nicht das Thun,
ſondern das Laſſen; ſie beſteht nicht darin, daß er ar-
beitet, ſondern daß er an ſich arbeiten läßt; nicht darin,
daß er ſeine Kraft entfaltet, ſondern daß er ſeine Kraft
eindämmen läßt durch die Sitte des Landes. Ich habe
einen Fall mit durchlebt, wo dieſes Verſäumnis über
einen Miſſionar eine unglückſelige Kataſtrophe herauf-
geführt hat. Die rückſichtsloſe Entfaltung ſeiner miſſio-
nariſchen Energie, welche in ungeſtümem Thatendrang
ſich durch keine äußere Autorität, am wenigſten durch
die Landesſitte, wollte binden laſſen, iſt ihm ſelbſt und
zum Teil auch ſeiner Miſſion zum Verderben geworden.
„Kommſt du in ein fremdes Land, ſo frage zuerſt, was
verboten iſt“, ſagt der japaniſche Volksmund; und wenn
es auch der Japaner nicht wünſcht, daß der Miſſionar
die Sitte des Landes äffiſch nachmacht, ſo kann doch
keiner von einer taktvollen Handhabung derſelben ent-
bunden werden. Ein alter Veteran auf dem oſtaſiatiſchen
Miſſionsgebiet erzählt, wie ein amerikaniſcher Reiſender
einſt eine Miſſionsſchule beſuchte. Die Schüler waren
vorher davon in Kenntnis geſetzt worden, daß ſie einen
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/319>, abgerufen am 22.11.2024.
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