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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große
Nation auch ohne das Christentum werden könne, ja
daß selbst Institutionen der Humanität, wie das Rote
Kreuz, von dem Christentum völlig unabhängig seien.

Immer seltener wurde es, daß Nichtchristen die
Gottesdienste besuchten. Aber auch für die Christen
selbst stand das politische Interesse zu sehr im Mittel-
punkt, als daß sie nach wie vor im Christentum auf-
gegangen wären. Es war zuviel der Zerstreuung, wo
Vertiefung sehr not gethan hätte. Das religiöse Leben
erschlaffte. Tausende, die nur aus politischen Gründen
sich hatten taufen lassen, kehrten der Kirche den Rücken,
als sie sich enttäuscht sahen, Tausende von anderen,
welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende
Durchbildung Christum angenommen hatten, erkalteten
jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Listen
der Kirchen gestrichen. Schwere Krisen blieben für
keine Gemeinde aus, und nicht jede hat sie überwunden.

Demgegenüber war die Verstärkung der christlichen
Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das
Christentum durch zwei Gesellschaften vermehrt, welche
besser nicht erschienen wären. Es sind dies die Ply-
mouthbrethren oder Darbysten (1892), die Anarchisten
auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die
Christen von jeder kirchlichen Gemeinschaft loszulösen,
und die Salvation Army (1895), welche als die christ-
lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die
Sympathien für das Christentum nicht zu erhöhen ver-
mögen. Dagegen machten sich bei den Kongregationalisten
unter den geschilderten Erfahrungen schwere Bedenken
geltend, ob man die fremden Missionskräfte noch weiter-
hin vermehren solle; ja, es war zeitweilig alles Ernstes
davon die Rede, daß der American Board seine Arbeiter
aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieser Frage

Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große
Nation auch ohne das Chriſtentum werden könne, ja
daß ſelbſt Inſtitutionen der Humanität, wie das Rote
Kreuz, von dem Chriſtentum völlig unabhängig ſeien.

Immer ſeltener wurde es, daß Nichtchriſten die
Gottesdienſte beſuchten. Aber auch für die Chriſten
ſelbſt ſtand das politiſche Intereſſe zu ſehr im Mittel-
punkt, als daß ſie nach wie vor im Chriſtentum auf-
gegangen wären. Es war zuviel der Zerſtreuung, wo
Vertiefung ſehr not gethan hätte. Das religiöſe Leben
erſchlaffte. Tauſende, die nur aus politiſchen Gründen
ſich hatten taufen laſſen, kehrten der Kirche den Rücken,
als ſie ſich enttäuſcht ſahen, Tauſende von anderen,
welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende
Durchbildung Chriſtum angenommen hatten, erkalteten
jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Liſten
der Kirchen geſtrichen. Schwere Kriſen blieben für
keine Gemeinde aus, und nicht jede hat ſie überwunden.

Demgegenüber war die Verſtärkung der chriſtlichen
Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das
Chriſtentum durch zwei Geſellſchaften vermehrt, welche
beſſer nicht erſchienen wären. Es ſind dies die Ply-
mouthbrethren oder Darbyſten (1892), die Anarchiſten
auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die
Chriſten von jeder kirchlichen Gemeinſchaft loszulöſen,
und die Salvation Army (1895), welche als die chriſt-
lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die
Sympathien für das Chriſtentum nicht zu erhöhen ver-
mögen. Dagegen machten ſich bei den Kongregationaliſten
unter den geſchilderten Erfahrungen ſchwere Bedenken
geltend, ob man die fremden Miſſionskräfte noch weiter-
hin vermehren ſolle; ja, es war zeitweilig alles Ernſtes
davon die Rede, daß der American Board ſeine Arbeiter
aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieſer Frage

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[294/0308] Krieg die Überzeugung gewonnen, daß man eine große Nation auch ohne das Chriſtentum werden könne, ja daß ſelbſt Inſtitutionen der Humanität, wie das Rote Kreuz, von dem Chriſtentum völlig unabhängig ſeien. Immer ſeltener wurde es, daß Nichtchriſten die Gottesdienſte beſuchten. Aber auch für die Chriſten ſelbſt ſtand das politiſche Intereſſe zu ſehr im Mittel- punkt, als daß ſie nach wie vor im Chriſtentum auf- gegangen wären. Es war zuviel der Zerſtreuung, wo Vertiefung ſehr not gethan hätte. Das religiöſe Leben erſchlaffte. Tauſende, die nur aus politiſchen Gründen ſich hatten taufen laſſen, kehrten der Kirche den Rücken, als ſie ſich enttäuſcht ſahen, Tauſende von anderen, welche durch die Erregung der Revivals ohne genügende Durchbildung Chriſtum angenommen hatten, erkalteten jetzt. Sie alle wurden nach und nach aus den Liſten der Kirchen geſtrichen. Schwere Kriſen blieben für keine Gemeinde aus, und nicht jede hat ſie überwunden. Demgegenüber war die Verſtärkung der chriſtlichen Macht zwar keine allzu geringe. Allerdings wurde das Chriſtentum durch zwei Geſellſchaften vermehrt, welche beſſer nicht erſchienen wären. Es ſind dies die Ply- mouthbrethren oder Darbyſten (1892), die Anarchiſten auf dem Gebiete der Kirche, welche darauf ausgehen, die Chriſten von jeder kirchlichen Gemeinſchaft loszulöſen, und die Salvation Army (1895), welche als die chriſt- lichen Radaumacher bei den feinfühligen Japanern die Sympathien für das Chriſtentum nicht zu erhöhen ver- mögen. Dagegen machten ſich bei den Kongregationaliſten unter den geſchilderten Erfahrungen ſchwere Bedenken geltend, ob man die fremden Miſſionskräfte noch weiter- hin vermehren ſolle; ja, es war zeitweilig alles Ernſtes davon die Rede, daß der American Board ſeine Arbeiter aus Japan zurückziehen werde. Auch mit dieſer Frage

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/308>, abgerufen am 28.07.2024.