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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Hauses herbeizuschleppen. Die Seile bildeten große
Haufen. Diese sämtlichen Seile waren aus Frauen-
haaren. Wie viele tausend Frauen mögen da wohl
ihr Haar geopfert haben! Die japanischen Frauen be-
trachten ihr Haar als ihren Hauptschmuck, aber willig
haben sie sich dieses Schmuckes beraubt, um ihrer Re-
ligion willen thaten sie es gern. Wo noch so viel
Operfreudigkeit zu finden ist, da darf man nicht daran
denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen
überwunden sei, so verächtlich er auch scheinen mag.
Religionen, die Jahrtausende gelebt, brauchen Jahr-
hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der
Buddhismus aus den Centren der Kultur längst sich
hat flüchten müssen, werden draußen bei den "pagani"
(Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera
stehen, und dort wird das "Namu Amida Butsu" noch
nicht verklungen sein.

Und doch, sterben wird der Buddhismus. Wohl
macht man jetzt verzweifelte Versuche, dem greisenhaften,
geistlosen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der
Konkurrenzkampf mit dem Christentum hat den Buddhis-
mus zu praktischer Arbeit gestachelt. Er verbreitet
Broschüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl
zum Teil geschickt redigierter Wochen- und Monats-
schriften heraus, sucht sich mit Krankenpflege zu be-
schäftigen, treibt hier und da Seelsorge in Gefängnissen,
baut Waisenhäuser und Rettungsanstalten und anderes
mehr. Wie der Kathliozismus durch den Protestantismus,
so hat der Buddhismus durch das Christentum eine
Reihe neuer Impulse erhalten. Ja, man machte sogar
den Versuch, ihn hinsichtlich seiner Lehre zu reformieren
und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen
Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Versuch ging

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Hauſes herbeizuſchleppen. Die Seile bildeten große
Haufen. Dieſe ſämtlichen Seile waren aus Frauen-
haaren. Wie viele tauſend Frauen mögen da wohl
ihr Haar geopfert haben! Die japaniſchen Frauen be-
trachten ihr Haar als ihren Hauptſchmuck, aber willig
haben ſie ſich dieſes Schmuckes beraubt, um ihrer Re-
ligion willen thaten ſie es gern. Wo noch ſo viel
Operfreudigkeit zu finden iſt, da darf man nicht daran
denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen
überwunden ſei, ſo verächtlich er auch ſcheinen mag.
Religionen, die Jahrtauſende gelebt, brauchen Jahr-
hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der
Buddhismus aus den Centren der Kultur längſt ſich
hat flüchten müſſen, werden draußen bei den „pagani“
(Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera
ſtehen, und dort wird das „Namu Amida Butſu“ noch
nicht verklungen ſein.

Und doch, ſterben wird der Buddhismus. Wohl
macht man jetzt verzweifelte Verſuche, dem greiſenhaften,
geiſtloſen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der
Konkurrenzkampf mit dem Chriſtentum hat den Buddhis-
mus zu praktiſcher Arbeit geſtachelt. Er verbreitet
Broſchüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl
zum Teil geſchickt redigierter Wochen- und Monats-
ſchriften heraus, ſucht ſich mit Krankenpflege zu be-
ſchäftigen, treibt hier und da Seelſorge in Gefängniſſen,
baut Waiſenhäuſer und Rettungsanſtalten und anderes
mehr. Wie der Kathliozismus durch den Proteſtantismus,
ſo hat der Buddhismus durch das Chriſtentum eine
Reihe neuer Impulſe erhalten. Ja, man machte ſogar
den Verſuch, ihn hinſichtlich ſeiner Lehre zu reformieren
und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen
Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Verſuch ging

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[257/0271] Hauſes herbeizuſchleppen. Die Seile bildeten große Haufen. Dieſe ſämtlichen Seile waren aus Frauen- haaren. Wie viele tauſend Frauen mögen da wohl ihr Haar geopfert haben! Die japaniſchen Frauen be- trachten ihr Haar als ihren Hauptſchmuck, aber willig haben ſie ſich dieſes Schmuckes beraubt, um ihrer Re- ligion willen thaten ſie es gern. Wo noch ſo viel Operfreudigkeit zu finden iſt, da darf man nicht daran denken, daß der Buddhismus von heute auf morgen überwunden ſei, ſo verächtlich er auch ſcheinen mag. Religionen, die Jahrtauſende gelebt, brauchen Jahr- hunderte zum Sterben. In ferner Zeit noch, wo der Buddhismus aus den Centren der Kultur längſt ſich hat flüchten müſſen, werden draußen bei den „pagani“ (Landbewohnern) in Japans dunklen Bergen noch tera ſtehen, und dort wird das „Namu Amida Butſu“ noch nicht verklungen ſein. Und doch, ſterben wird der Buddhismus. Wohl macht man jetzt verzweifelte Verſuche, dem greiſenhaften, geiſtloſen Organismus neues Leben einzuhauchen. Der Konkurrenzkampf mit dem Chriſtentum hat den Buddhis- mus zu praktiſcher Arbeit geſtachelt. Er verbreitet Broſchüren und Flugblätter, giebt eine große Anzahl zum Teil geſchickt redigierter Wochen- und Monats- ſchriften heraus, ſucht ſich mit Krankenpflege zu be- ſchäftigen, treibt hier und da Seelſorge in Gefängniſſen, baut Waiſenhäuſer und Rettungsanſtalten und anderes mehr. Wie der Kathliozismus durch den Proteſtantismus, ſo hat der Buddhismus durch das Chriſtentum eine Reihe neuer Impulſe erhalten. Ja, man machte ſogar den Verſuch, ihn hinſichtlich ſeiner Lehre zu reformieren und durch das Labyrinth des Aberglaubens zu der reinen Lehre des Stifters zurückzukehren. Der Verſuch ging 17

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/271>, abgerufen am 24.11.2024.