Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

lichem Verkehr; denn persönlich sind die wenigsten
Buddhapriester Fanatiker, wenn sie auch jetzt gegen
die christliche Mission scharf Front machen. Mein
Nachbar war bald so vertraut, daß er mich mit "kimi"
(Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch-
licher Mensch, sprach in eitler Selbstüberhebung über
die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver-
ständen, spottete über das religiöse Leben der Leute als
über einen Aberglauben und meinte, selbst allein des
Lebens Rätsel gelöst zu haben. Er gehörte nämlich
zur Zensekte, welche durch Betonung der Meditation
dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn
er auch selbst nie nach Vorschrift meditierte, so war
ihm doch die unvergohrene "Philosophie", die er in
seinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches
Studium zusammengebraut hatte, alleinige Wahrheit.
Worin diese bestand, hat er mir freilich nie verraten;
sein ganzes sehr lebhaftes Gespräch war ein fortwährendes
Räsonnieren und Kritisieren der Beschränktheit anderer.
Er besuchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei-
mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben,
der ihn verstehe und zu würdigen wisse. Bald ließ er
alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm
auch folgende Geschichte, die zwar nicht ästhetisch schön,
aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteristisch
klingt.

"Mein Nachbar", sagte er, "ist noch sehr beschränkt
und abergläubisch. Vor noch nicht langer Zeit hatte
er einen Schüler, den er zum Priesteramt erzog 1).
Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor

1) Die wenigsten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet,
obgleich dieselben keineswegs fehlen; die meisten gehen bei dem
Vorsteher eines Tempels in die Lehre.

lichem Verkehr; denn perſönlich ſind die wenigſten
Buddhaprieſter Fanatiker, wenn ſie auch jetzt gegen
die chriſtliche Miſſion ſcharf Front machen. Mein
Nachbar war bald ſo vertraut, daß er mich mit „kimi“
(Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch-
licher Menſch, ſprach in eitler Selbſtüberhebung über
die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver-
ſtänden, ſpottete über das religiöſe Leben der Leute als
über einen Aberglauben und meinte, ſelbſt allein des
Lebens Rätſel gelöſt zu haben. Er gehörte nämlich
zur Zenſekte, welche durch Betonung der Meditation
dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn
er auch ſelbſt nie nach Vorſchrift meditierte, ſo war
ihm doch die unvergohrene „Philoſophie“, die er in
ſeinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches
Studium zuſammengebraut hatte, alleinige Wahrheit.
Worin dieſe beſtand, hat er mir freilich nie verraten;
ſein ganzes ſehr lebhaftes Geſpräch war ein fortwährendes
Räſonnieren und Kritiſieren der Beſchränktheit anderer.
Er beſuchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei-
mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben,
der ihn verſtehe und zu würdigen wiſſe. Bald ließ er
alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm
auch folgende Geſchichte, die zwar nicht äſthetiſch ſchön,
aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteriſtiſch
klingt.

„Mein Nachbar“, ſagte er, „iſt noch ſehr beſchränkt
und abergläubiſch. Vor noch nicht langer Zeit hatte
er einen Schüler, den er zum Prieſteramt erzog 1).
Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor

1) Die wenigſten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet,
obgleich dieſelben keineswegs fehlen; die meiſten gehen bei dem
Vorſteher eines Tempels in die Lehre.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0268" n="254"/>
lichem Verkehr; denn per&#x017F;önlich &#x017F;ind die wenig&#x017F;ten<lb/>
Buddhaprie&#x017F;ter Fanatiker, wenn &#x017F;ie auch jetzt gegen<lb/>
die chri&#x017F;tliche Mi&#x017F;&#x017F;ion &#x017F;charf Front machen. Mein<lb/>
Nachbar war bald &#x017F;o vertraut, daß er mich mit <hi rendition="#aq">&#x201E;kimi&#x201C;</hi><lb/>
(Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch-<lb/>
licher Men&#x017F;ch, &#x017F;prach in eitler Selb&#x017F;tüberhebung über<lb/>
die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver-<lb/>
&#x017F;tänden, &#x017F;pottete über das religiö&#x017F;e Leben der Leute als<lb/>
über einen Aberglauben und meinte, &#x017F;elb&#x017F;t allein des<lb/>
Lebens Rät&#x017F;el gelö&#x017F;t zu haben. Er gehörte nämlich<lb/>
zur Zen&#x017F;ekte, welche durch Betonung der Meditation<lb/>
dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn<lb/>
er auch &#x017F;elb&#x017F;t nie nach Vor&#x017F;chrift meditierte, &#x017F;o war<lb/>
ihm doch die unvergohrene &#x201E;Philo&#x017F;ophie&#x201C;, die er in<lb/>
&#x017F;einem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches<lb/>
Studium zu&#x017F;ammengebraut hatte, alleinige Wahrheit.<lb/>
Worin die&#x017F;e be&#x017F;tand, hat er mir freilich nie verraten;<lb/>
&#x017F;ein ganzes &#x017F;ehr lebhaftes Ge&#x017F;präch war ein fortwährendes<lb/>&#x017F;onnieren und Kriti&#x017F;ieren der Be&#x017F;chränktheit anderer.<lb/>
Er be&#x017F;uchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei-<lb/>
mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben,<lb/>
der ihn ver&#x017F;tehe und zu würdigen wi&#x017F;&#x017F;e. Bald ließ er<lb/>
alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm<lb/>
auch folgende Ge&#x017F;chichte, die zwar nicht ä&#x017F;theti&#x017F;ch &#x017F;chön,<lb/>
aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch<lb/>
klingt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mein Nachbar&#x201C;, &#x017F;agte er, &#x201E;i&#x017F;t noch &#x017F;ehr be&#x017F;chränkt<lb/>
und abergläubi&#x017F;ch. Vor noch nicht langer Zeit hatte<lb/>
er einen Schüler, den er zum Prie&#x017F;teramt erzog <note place="foot" n="1)">Die wenig&#x017F;ten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet,<lb/>
obgleich die&#x017F;elben keineswegs fehlen; die mei&#x017F;ten gehen bei dem<lb/>
Vor&#x017F;teher eines Tempels in die Lehre.</note>.<lb/>
Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0268] lichem Verkehr; denn perſönlich ſind die wenigſten Buddhaprieſter Fanatiker, wenn ſie auch jetzt gegen die chriſtliche Miſſion ſcharf Front machen. Mein Nachbar war bald ſo vertraut, daß er mich mit „kimi“ (Kollege) anredete. Er war ein unglaublich oberfläch- licher Menſch, ſprach in eitler Selbſtüberhebung über die Dummheit der Dorfbewohner, die ihn nicht ver- ſtänden, ſpottete über das religiöſe Leben der Leute als über einen Aberglauben und meinte, ſelbſt allein des Lebens Rätſel gelöſt zu haben. Er gehörte nämlich zur Zenſekte, welche durch Betonung der Meditation dem Subjektivismus Thür und Thor öffnet, und wenn er auch ſelbſt nie nach Vorſchrift meditierte, ſo war ihm doch die unvergohrene „Philoſophie“, die er in ſeinem dreißigjährigen unreifen Kopfe ohne jegliches Studium zuſammengebraut hatte, alleinige Wahrheit. Worin dieſe beſtand, hat er mir freilich nie verraten; ſein ganzes ſehr lebhaftes Geſpräch war ein fortwährendes Räſonnieren und Kritiſieren der Beſchränktheit anderer. Er beſuchte mich tagtäglich, manchmal zwei- und drei- mal; denn an mir glaubte er einen gefunden zu haben, der ihn verſtehe und zu würdigen wiſſe. Bald ließ er alle Schranken fallen und erzählte mir unter anderm auch folgende Geſchichte, die zwar nicht äſthetiſch ſchön, aber im Munde eines Bonzen immerhin charakteriſtiſch klingt. „Mein Nachbar“, ſagte er, „iſt noch ſehr beſchränkt und abergläubiſch. Vor noch nicht langer Zeit hatte er einen Schüler, den er zum Prieſteramt erzog 1). Eines Morgens wollte der Kollege über Land. Zuvor 1) Die wenigſten Bonzen werden auf Schulen ausgebildet, obgleich dieſelben keineswegs fehlen; die meiſten gehen bei dem Vorſteher eines Tempels in die Lehre.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/268
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/268>, abgerufen am 24.11.2024.