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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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jemand ein Anliegen hat, so schreibt er dasselbe auf
ein Stück Papier, verkaut dieses im Munde, ballt es
zu einem Klümpchen zusammen und speit es dem Nio
an. Bleibt es hängen, so wird die Bitte erhört, fällt
es aber ab, so findet sie keine Gewährung und der
Bittgänger mag dann ein anderes Mittel versuchen,
um zu seinem Ziele zu kommen.

Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht
minder gewöhnlicher Art sind, und gerade sie erfreuen
sich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von
Asakusa besucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf,
welcher schon durch sein abgenutztes Äußere beweist,
daß er in großer Gunst bei dem Volke steht. Hände
und Füße und andere Körperteile des Götzen sind fast
vollständig durchgescheuert, die Nase ist so sehr abge-
rieben, daß sie nicht mehr nach außen, sondern nach
innen sich erstreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen
als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott ist der
Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte
Doktor Eisenbart, die Leute kuriert nach seiner Art.
Wenn nämlich jemand eine Nasenkrankheit hat oder an
irgend einem anderen Glied leidet, so reibt er mit der
Hand den entsprechenden Körperteil des hotoke, und der
Wunderdoktor Binzuru sorgt für das Weitere.

Den Ehrenplatz im Asakusatempel nimmt eine
Gottheit edlerer Art ein, welche als die sympathischste
Erscheinung der japanischen Götterwelt bezeichnet werden
darf. Es ist die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon
genannt. Von ihr wird erzählt, daß sie, als sie die
höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es
verschmähte, in das Nirwana, den Zustand seligen Ver-
gessens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen,
wo sie die flehenden Bitten und Angstrufe der armen

jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf
ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es
zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō
an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt
es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der
Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen,
um zu ſeinem Ziele zu kommen.

Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht
minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen
ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von
Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf,
welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt,
daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände
und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt
vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge-
rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach
innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen
als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der
Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte
Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art.
Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an
irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der
Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der
Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere.

Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine
Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte
Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden
darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon
genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die
höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es
verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver-
geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen,
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[240/0254] jemand ein Anliegen hat, ſo ſchreibt er dasſelbe auf ein Stück Papier, verkaut dieſes im Munde, ballt es zu einem Klümpchen zuſammen und ſpeit es dem Niō an. Bleibt es hängen, ſo wird die Bitte erhört, fällt es aber ab, ſo findet ſie keine Gewährung und der Bittgänger mag dann ein anderes Mittel verſuchen, um zu ſeinem Ziele zu kommen. Es giebt eine Reihe von Göttern, die von nicht minder gewöhnlicher Art ſind, und gerade ſie erfreuen ſich großer Beliebtheit. Wer den großen Tempel von Aſakuſa beſucht, dem fällt vor allem ein hotoke auf, welcher ſchon durch ſein abgenutztes Äußere beweiſt, daß er in großer Gunſt bei dem Volke ſteht. Hände und Füße und andere Körperteile des Götzen ſind faſt vollſtändig durchgeſcheuert, die Naſe iſt ſo ſehr abge- rieben, daß ſie nicht mehr nach außen, ſondern nach innen ſich erſtreckt, ein Anblick, der mehr zum Lachen als zur Andacht reizt. Der merkwürdige Gott iſt der Wunderdoktor Binzuru, welcher, wie der berühmte Doktor Eiſenbart, die Leute kuriert nach ſeiner Art. Wenn nämlich jemand eine Naſenkrankheit hat oder an irgend einem anderen Glied leidet, ſo reibt er mit der Hand den entſprechenden Körperteil des hotoke, und der Wunderdoktor Binzuru ſorgt für das Weitere. Den Ehrenplatz im Aſakuſatempel nimmt eine Gottheit edlerer Art ein, welche als die ſympathiſchſte Erſcheinung der japaniſchen Götterwelt bezeichnet werden darf. Es iſt die Göttin der Barmherzigkeit, Kwannon genannt. Von ihr wird erzählt, daß ſie, als ſie die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht hatte, es verſchmähte, in das Nirwana, den Zuſtand ſeligen Ver- geſſens, einzugehen. Sie wollte lieber da verweilen, wo ſie die flehenden Bitten und Angſtrufe der armen

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/254>, abgerufen am 23.11.2024.