kultus später als ein fremdes Reis aufgepfropft worden sei, seine Stelle verlor, weil mit dieser Behauptung auch die göttliche Abstammung des Kaisers fallen mußte. Der Kaiser ist der Vermittler zwischen dem Volk und der Gottheit, der Hohepriester des japanischen Volkes. Tag für Tag betet er zu den Geistern seiner Ahnen für des Volkes Wohl, und an gewissen Tagen und bei großen Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenschaft die Pflicht, sich an den shintoistischen Gebetsceremonien zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus sehr wohl die japanische Hofreligion nennen.
Ich hielt mich während der Juli- und August- monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit, zusammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeschiedenen Priesterdorf Mitake 1) auf. Ich wohnte selbst im Hause des Oberpriesters, der, wie seine Kollegen auch, gegen den christlichen Missionar nicht das geringste Bedenken hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man mit der Eisenbahn vier Stationen weiter nach Westen, dann geht es in sechsstündigem Marsch durch die heiße Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana- lisiert, das Wasser für die Millionenstadt Tokyo liefert, und in weiteren zwei Stunden durch einen schönen Wald steil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg aufgestelltes Torii an, daß man sich einem Shintotempel nähert. Das Torii ist das Eingangsthor des o miya und besteht aus zwei senkrechten Holzpfeilern mit einem oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach das Torii aussieht, so charakteristisch ist es. Wie ich
1) Vergl. auch Schmiedel, Kultur- und Missionsbilder aus Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897.
kultus ſpäter als ein fremdes Reis aufgepfropft worden ſei, ſeine Stelle verlor, weil mit dieſer Behauptung auch die göttliche Abſtammung des Kaiſers fallen mußte. Der Kaiſer iſt der Vermittler zwiſchen dem Volk und der Gottheit, der Hoheprieſter des japaniſchen Volkes. Tag für Tag betet er zu den Geiſtern ſeiner Ahnen für des Volkes Wohl, und an gewiſſen Tagen und bei großen Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenſchaft die Pflicht, ſich an den ſhintoiſtiſchen Gebetsceremonien zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus ſehr wohl die japaniſche Hofreligion nennen.
Ich hielt mich während der Juli- und Auguſt- monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit, zuſammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeſchiedenen Prieſterdorf Mitake 1) auf. Ich wohnte ſelbſt im Hauſe des Oberprieſters, der, wie ſeine Kollegen auch, gegen den chriſtlichen Miſſionar nicht das geringſte Bedenken hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man mit der Eiſenbahn vier Stationen weiter nach Weſten, dann geht es in ſechsſtündigem Marſch durch die heiße Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana- liſiert, das Waſſer für die Millionenſtadt Tokyo liefert, und in weiteren zwei Stunden durch einen ſchönen Wald ſteil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg aufgeſtelltes Torii an, daß man ſich einem Shintotempel nähert. Das Torii iſt das Eingangsthor des o miya und beſteht aus zwei ſenkrechten Holzpfeilern mit einem oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach das Torii ausſieht, ſo charakteriſtiſch iſt es. Wie ich
1) Vergl. auch Schmiedel, Kultur- und Miſſionsbilder aus Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897.
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kultus ſpäter als ein fremdes Reis aufgepfropft worden
ſei, ſeine Stelle verlor, weil mit dieſer Behauptung auch
die göttliche Abſtammung des Kaiſers fallen mußte.
Der Kaiſer iſt der Vermittler zwiſchen dem Volk und
der Gottheit, der Hoheprieſter des japaniſchen Volkes.
Tag für Tag betet er zu den Geiſtern ſeiner Ahnen für
des Volkes Wohl, und an gewiſſen Tagen und bei großen
Staatsaktionen hat der Hof und die hohe Beamtenſchaft
die Pflicht, ſich an den ſhintoiſtiſchen Gebetsceremonien
zu beteiligen. Man könnte den Shintoismus ſehr wohl
die japaniſche Hofreligion nennen.
Ich hielt mich während der Juli- und Auguſt-
monate der Jahre 1892 und 1893 in der Ferienzeit,
zuſammen etwa zwölf Wochen, in dem weltabgeſchiedenen
Prieſterdorf Mitake 1) auf. Ich wohnte ſelbſt im Hauſe
des Oberprieſters, der, wie ſeine Kollegen auch, gegen
den chriſtlichen Miſſionar nicht das geringſte Bedenken
hatte, und hatte reichlich Gelegenheit, den populären
Shintoismus kennen zu lernen. Von Tokyo fährt man
mit der Eiſenbahn vier Stationen weiter nach Weſten,
dann geht es in ſechsſtündigem Marſch durch die heiße
Ebene an dem Tamagawa vorbei, welcher, wohl kana-
liſiert, das Waſſer für die Millionenſtadt Tokyo liefert,
und in weiteren zwei Stunden durch einen ſchönen Wald
ſteil den Berg hinan. Schon eine halbe Stunde vor
dem Orte zeigt ein mitten im Wald quer über den Weg
aufgeſtelltes Torii an, daß man ſich einem Shintotempel
nähert. Das Torii iſt das Eingangsthor des o miya
und beſteht aus zwei ſenkrechten Holzpfeilern mit einem
oder auch zwei Querbalken oben darüber. So einfach
das Torii ausſieht, ſo charakteriſtiſch iſt es. Wie ich
1) Vergl. auch Schmiedel, Kultur- und Miſſionsbilder aus
Japan. 2. Aufl. A. Haack, Berlin 1897.
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/214>, abgerufen am 22.11.2024.
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