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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erst mit der
Stunde seines Todes. Denn durch den Tod wird der
Sterbliche unsterblich und der Mensch ein Gott. Vor
kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz-
gehäusen, Tamashiro genannt, Wohnung bereitet ist,
verehrt man sie und bringt ihnen aus Reis, Fisch,
Sake etc. bestehende Speiseopfer dar; doch verbinden
sich damit mehr Gedanken der Pietät als der
Religiosität, und fast will es scheinen, als wäre die
Erhaltung dieser Sitte mehr dem Konfuzianismus als
dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich spielen diese
Familiengeister im öffentlichen religiösen Leben keine
Rolle.

Öffentliche Götter sind neben den Naturgottheiten
nur die Geister der kaiserlichen Ahnen und bedeutender
Persönlichkeiten. In unsere Verhältnisse übertragen
würde nicht nur Kaiser Wilhelm I., sondern, falls es
dem späteren Kaiser so gefallen hätte, auch Moltke und
Bismarck unter die Götter versetzt sein. So ist z. B. Ojin
Tenno, der Sohn der kriegerischen Kaiserin Jingo,
welche die ersten Feldzüge nach Korea unternahm (um
die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus
populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter
werden von dem Kaiser, dem Nachkommen und Stell-
vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiser selbst
wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott
betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klassen längst
nicht mehr an das Märchen von seiner Gottessohnschaft
glauben, so schweigen sie sich doch klugerweise darüber
aus. Erst vor wenigen Jahren ist es geschehen, daß
ein Professor der Universität, welcher die wissenschaftlich
begründete These aufstellte, der Shintoismus sei ur-
sprünglich eine reine Naturreligion, welchen der Ahnen-

Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erſt mit der
Stunde ſeines Todes. Denn durch den Tod wird der
Sterbliche unſterblich und der Menſch ein Gott. Vor
kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz-
gehäuſen, Tamaſhiro genannt, Wohnung bereitet iſt,
verehrt man ſie und bringt ihnen aus Reis, Fiſch,
Sake ꝛc. beſtehende Speiſeopfer dar; doch verbinden
ſich damit mehr Gedanken der Pietät als der
Religioſität, und faſt will es ſcheinen, als wäre die
Erhaltung dieſer Sitte mehr dem Konfuzianismus als
dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich ſpielen dieſe
Familiengeiſter im öffentlichen religiöſen Leben keine
Rolle.

Öffentliche Götter ſind neben den Naturgottheiten
nur die Geiſter der kaiſerlichen Ahnen und bedeutender
Perſönlichkeiten. In unſere Verhältniſſe übertragen
würde nicht nur Kaiſer Wilhelm I., ſondern, falls es
dem ſpäteren Kaiſer ſo gefallen hätte, auch Moltke und
Bismarck unter die Götter verſetzt ſein. So iſt z. B. Ojin
Tenno, der Sohn der kriegeriſchen Kaiſerin Jingo,
welche die erſten Feldzüge nach Korea unternahm (um
die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus
populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter
werden von dem Kaiſer, dem Nachkommen und Stell-
vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiſer ſelbſt
wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott
betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klaſſen längſt
nicht mehr an das Märchen von ſeiner Gottesſohnſchaft
glauben, ſo ſchweigen ſie ſich doch klugerweiſe darüber
aus. Erſt vor wenigen Jahren iſt es geſchehen, daß
ein Profeſſor der Univerſität, welcher die wiſſenſchaftlich
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[199/0213] Zeit für den Japaner beginnt eigentlich erſt mit der Stunde ſeines Todes. Denn durch den Tod wird der Sterbliche unſterblich und der Menſch ein Gott. Vor kleinen Hausaltären, wo ihnen in naturweißen Holz- gehäuſen, Tamaſhiro genannt, Wohnung bereitet iſt, verehrt man ſie und bringt ihnen aus Reis, Fiſch, Sake ꝛc. beſtehende Speiſeopfer dar; doch verbinden ſich damit mehr Gedanken der Pietät als der Religioſität, und faſt will es ſcheinen, als wäre die Erhaltung dieſer Sitte mehr dem Konfuzianismus als dem Shintoismus zu verdanken. Natürlich ſpielen dieſe Familiengeiſter im öffentlichen religiöſen Leben keine Rolle. Öffentliche Götter ſind neben den Naturgottheiten nur die Geiſter der kaiſerlichen Ahnen und bedeutender Perſönlichkeiten. In unſere Verhältniſſe übertragen würde nicht nur Kaiſer Wilhelm I., ſondern, falls es dem ſpäteren Kaiſer ſo gefallen hätte, auch Moltke und Bismarck unter die Götter verſetzt ſein. So iſt z. B. Ojin Tenno, der Sohn der kriegeriſchen Kaiſerin Jingo, welche die erſten Feldzüge nach Korea unternahm (um die Mitte des dritten Jahrhunderts), zu dem überaus populären Kriegsgott Hachiman geworden. Die Götter werden von dem Kaiſer, dem Nachkommen und Stell- vertreter der Sonnengöttin, ernannt. Der Kaiſer ſelbſt wird von dem gewöhnlichen Volke immer noch als Gott betrachtet, und wenn auch die aufgeklärten Klaſſen längſt nicht mehr an das Märchen von ſeiner Gottesſohnſchaft glauben, ſo ſchweigen ſie ſich doch klugerweiſe darüber aus. Erſt vor wenigen Jahren iſt es geſchehen, daß ein Profeſſor der Univerſität, welcher die wiſſenſchaftlich begründete Theſe aufſtellte, der Shintoismus ſei ur- ſprünglich eine reine Naturreligion, welchen der Ahnen-

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/213>, abgerufen am 22.11.2024.