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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückzu-
führen.

Der Shintoismus ist also ursprünglich eine Natur-
religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die
oberste Gottheit ist. Aber die Naturreligion wird zur
Ahnenverehrung, da durch die Abstammung von der
Sonne die japanischen Kaiser und durch die Abstam-
mung von Susano und anderen niederen Gottheiten
auch das ganze japanische Volk göttlichen Geschlechts
ist. Heute ist der Shintoismus das zweite mehr als
das erste. Zwar finden auch die personifizierten Natur-
gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der
Fruchtbarkeit, der Pest etc., noch ihre Verehrung und in
der ackerbauenden Bevölkerung, die sich zu jeder Zeit
von der Natur abhängig fühlt, finden sie einen starken
Rückhalt. Der Donnergott Kaminari ist heute noch so
gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari ist allzeit
viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amaterasu
oder, wie sie in der religiösen Sprache heißt, Tensho
Daijin schaut mancher in Andacht auf. Wenn man
des Morgens früh über die Straße geht, kann man
wohl sehen, wie einer oder der andere sich der auf-
gehenden Sonne gegenüber verneigt und sie mit Hände-
klatschen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch-
sommer auf den Gipfel des Fujisan steigt, so erblickt
man Dutzende von Pilgern, welche sich auch die weiteste
Reise nicht verdrießen lassen, um der Sonne an diesem
ihr besonders geweihten Ort ihre Verehrung dar-
zubringen.

Aber es ist doch wesentlich nur draußen in der
Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen
in den Häusern sowohl als auch im öffentlichen Leben
ist der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die schönste

auf einen gemeinſamen hiſtoriſchen Urſprung zurückzu-
führen.

Der Shintoismus iſt alſo urſprünglich eine Natur-
religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die
oberſte Gottheit iſt. Aber die Naturreligion wird zur
Ahnenverehrung, da durch die Abſtammung von der
Sonne die japaniſchen Kaiſer und durch die Abſtam-
mung von Suſano und anderen niederen Gottheiten
auch das ganze japaniſche Volk göttlichen Geſchlechts
iſt. Heute iſt der Shintoismus das zweite mehr als
das erſte. Zwar finden auch die perſonifizierten Natur-
gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der
Fruchtbarkeit, der Peſt ꝛc., noch ihre Verehrung und in
der ackerbauenden Bevölkerung, die ſich zu jeder Zeit
von der Natur abhängig fühlt, finden ſie einen ſtarken
Rückhalt. Der Donnergott Kaminari iſt heute noch ſo
gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari iſt allzeit
viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amateraſu
oder, wie ſie in der religiöſen Sprache heißt, Tenſho
Daijin ſchaut mancher in Andacht auf. Wenn man
des Morgens früh über die Straße geht, kann man
wohl ſehen, wie einer oder der andere ſich der auf-
gehenden Sonne gegenüber verneigt und ſie mit Hände-
klatſchen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch-
ſommer auf den Gipfel des Fujiſan ſteigt, ſo erblickt
man Dutzende von Pilgern, welche ſich auch die weiteſte
Reiſe nicht verdrießen laſſen, um der Sonne an dieſem
ihr beſonders geweihten Ort ihre Verehrung dar-
zubringen.

Aber es iſt doch weſentlich nur draußen in der
Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen
in den Häuſern ſowohl als auch im öffentlichen Leben
iſt der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die ſchönſte

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[198/0212] auf einen gemeinſamen hiſtoriſchen Urſprung zurückzu- führen. Der Shintoismus iſt alſo urſprünglich eine Natur- religion, bei welcher die Sonne bezw. der Himmel die oberſte Gottheit iſt. Aber die Naturreligion wird zur Ahnenverehrung, da durch die Abſtammung von der Sonne die japaniſchen Kaiſer und durch die Abſtam- mung von Suſano und anderen niederen Gottheiten auch das ganze japaniſche Volk göttlichen Geſchlechts iſt. Heute iſt der Shintoismus das zweite mehr als das erſte. Zwar finden auch die perſonifizierten Natur- gewalten, wie die Götter des Windes, des Feuers, der Fruchtbarkeit, der Peſt ꝛc., noch ihre Verehrung und in der ackerbauenden Bevölkerung, die ſich zu jeder Zeit von der Natur abhängig fühlt, finden ſie einen ſtarken Rückhalt. Der Donnergott Kaminari iſt heute noch ſo gefürchtet wie ehedem; der Reisgott Inari iſt allzeit viel begehrt, und zu der großen Wohlthäterin Amateraſu oder, wie ſie in der religiöſen Sprache heißt, Tenſho Daijin ſchaut mancher in Andacht auf. Wenn man des Morgens früh über die Straße geht, kann man wohl ſehen, wie einer oder der andere ſich der auf- gehenden Sonne gegenüber verneigt und ſie mit Hände- klatſchen freudig begrüßt, und wenn man im Hoch- ſommer auf den Gipfel des Fujiſan ſteigt, ſo erblickt man Dutzende von Pilgern, welche ſich auch die weiteſte Reiſe nicht verdrießen laſſen, um der Sonne an dieſem ihr beſonders geweihten Ort ihre Verehrung dar- zubringen. Aber es iſt doch weſentlich nur draußen in der Natur, wo die Natur noch ihr Recht fordert. Drinnen in den Häuſern ſowohl als auch im öffentlichen Leben iſt der Shintoismus Ahnenkultus geworden. Die ſchönſte

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/212>, abgerufen am 22.11.2024.