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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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heute so wenig wie in der Vergangenheit seiner gött-
lichen Abstammung. In der Zeit als Karl Martell
den letzten Merovinger in das Kloster schickte, um selbst
die Zügel der Regierung in seine kräftige Hand zu
nehmen, setzte der japanische Generalissimus den Kaiser
gefangen hinter die Wände seines Palastes in Kyoto,
um selbst die Macht der Regierung an sich zu reißen.
Vorläufig blieb dieser Zustand provisorisch, bis ihn
Yoritomo zu einem gesetzlichen machte. Man redete
dem Volke ein, der Kaiser sei zu hehr und heilig, um
sich selbst mit den Geschäften der Regierung zu befassen
und sein heiliges Angesicht dem gemeinen Volke zu
zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiser
formell seine Bestätigung ein; aber das war eine dem
kaisertreuen Volk gegenüber gespielte Farce und weiter
nichts. Unterdessen blieb der Sohn des Himmels in
der Gefangenschaft, während im Lande nacheinander die
Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und
als die beiden bedeutendsten die der Hojo und der
Tokugawa herrschten. Erst mit der Restauration von
1867/68 öffneten sich ihm die Thore des Schlosses, der
Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur
Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji
begann.

Aber auch jetzt noch lebte er in strenger Abgeschieden-
heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber
immer noch im geschlossenen Wagen 1), und die Polizei
sorgte dafür, daß ihn möglichst wenige profane Augen
erspähten. Aber diese Verfahrungsweise erwies sich auf

1) Bei seinen Ausfahrten müssen in allen Straßen, durch
welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato
"Holzschiebeläden" vorgemacht werden, da es "despektierlich" wäre,
wenn ein Unterthan auf den Erhabenen "herabschaute".

heute ſo wenig wie in der Vergangenheit ſeiner gött-
lichen Abſtammung. In der Zeit als Karl Martell
den letzten Merovinger in das Kloſter ſchickte, um ſelbſt
die Zügel der Regierung in ſeine kräftige Hand zu
nehmen, ſetzte der japaniſche Generaliſſimus den Kaiſer
gefangen hinter die Wände ſeines Palaſtes in Kyoto,
um ſelbſt die Macht der Regierung an ſich zu reißen.
Vorläufig blieb dieſer Zuſtand proviſoriſch, bis ihn
Yoritomo zu einem geſetzlichen machte. Man redete
dem Volke ein, der Kaiſer ſei zu hehr und heilig, um
ſich ſelbſt mit den Geſchäften der Regierung zu befaſſen
und ſein heiliges Angeſicht dem gemeinen Volke zu
zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiſer
formell ſeine Beſtätigung ein; aber das war eine dem
kaiſertreuen Volk gegenüber geſpielte Farce und weiter
nichts. Unterdeſſen blieb der Sohn des Himmels in
der Gefangenſchaft, während im Lande nacheinander die
Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und
als die beiden bedeutendſten die der Hōjō und der
Tokugawa herrſchten. Erſt mit der Reſtauration von
1867/68 öffneten ſich ihm die Thore des Schloſſes, der
Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur
Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji
begann.

Aber auch jetzt noch lebte er in ſtrenger Abgeſchieden-
heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber
immer noch im geſchloſſenen Wagen 1), und die Polizei
ſorgte dafür, daß ihn möglichſt wenige profane Augen
erſpähten. Aber dieſe Verfahrungsweiſe erwies ſich auf

1) Bei ſeinen Ausfahrten müſſen in allen Straßen, durch
welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato
„Holzſchiebeläden“ vorgemacht werden, da es „deſpektierlich“ wäre,
wenn ein Unterthan auf den Erhabenen „herabſchaute“.
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[171/0185] heute ſo wenig wie in der Vergangenheit ſeiner gött- lichen Abſtammung. In der Zeit als Karl Martell den letzten Merovinger in das Kloſter ſchickte, um ſelbſt die Zügel der Regierung in ſeine kräftige Hand zu nehmen, ſetzte der japaniſche Generaliſſimus den Kaiſer gefangen hinter die Wände ſeines Palaſtes in Kyoto, um ſelbſt die Macht der Regierung an ſich zu reißen. Vorläufig blieb dieſer Zuſtand proviſoriſch, bis ihn Yoritomo zu einem geſetzlichen machte. Man redete dem Volke ein, der Kaiſer ſei zu hehr und heilig, um ſich ſelbſt mit den Geſchäften der Regierung zu befaſſen und ſein heiliges Angeſicht dem gemeinen Volke zu zeigen. Jeder neue Schogun holte von dem Kaiſer formell ſeine Beſtätigung ein; aber das war eine dem kaiſertreuen Volk gegenüber geſpielte Farce und weiter nichts. Unterdeſſen blieb der Sohn des Himmels in der Gefangenſchaft, während im Lande nacheinander die Familien der Fujiwara, der Taira, der Minamoto, und als die beiden bedeutendſten die der Hōjō und der Tokugawa herrſchten. Erſt mit der Reſtauration von 1867/68 öffneten ſich ihm die Thore des Schloſſes, der Schogun wurde nach einigen unglücklichen Kämpfen zur Abdankung genötigt und die glorreiche Periode Meiji begann. Aber auch jetzt noch lebte er in ſtrenger Abgeſchieden- heit von dem Volk. Wohl fuhr er zuweilen aus, aber immer noch im geſchloſſenen Wagen 1), und die Polizei ſorgte dafür, daß ihn möglichſt wenige profane Augen erſpähten. Aber dieſe Verfahrungsweiſe erwies ſich auf 1) Bei ſeinen Ausfahrten müſſen in allen Straßen, durch welche er kommt, in den höher gelegenen Stockwerken die Amato „Holzſchiebeläden“ vorgemacht werden, da es „deſpektierlich“ wäre, wenn ein Unterthan auf den Erhabenen „herabſchaute“.

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/185>, abgerufen am 28.11.2024.