Wenn man sie aber zufällig einmal kennen lernt, so sieht man zu seinem Erstaunen junge Leute, unter deren Nase ein noch unbestimmbarer Flaum dunkel auf die Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet. Der deutsche Jüngling wagt es kaum, politische Ansichten zu haben; der japanische aber ist kühn genug, die seinigen zum Gegenstand öffentlicher Reden oder großer Leit- artikel zu machen, und mit dem größten Ernst, wie ihn nur eine ungeheure Selbstschätzung erzeugen kann, weiß- haarigen Staatsmännern Vorlesungen über auswärtige Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des deutschen Reichstags gesessen, und was mir bei dem Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder ganzer Kahlköpfe. Ich saß auch auf der Tribüne des japanischen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich hier vergeblich umgesehen.
So finden wir hier und da Dinge im politischen Leben, die wir als Mängel und Auswüchse bezeichnen müssen. Aber wie dem auch sein mag, der politisch- patriotische Sinn als solcher bleibt bestehen, ein Gemeinsinn, wie er sich unter den Völkern der Erde kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be- gegnen hier wiederum dem beherrschenden Einfluß des Konfuzius, welcher, neben dem Familiensinn "ko" und aus ihm patriarchalisch herauswachsend, den Gemeinsinn "chu" als zweites, in seinen Wirkungen geradezu reli- giöses Dogma aufstellte. Im Besitze dieser Tugend sind die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu- kunft sein.
Japan ist eine konstitutionelle Monarchie in dem- selben Sinne wie Preußen. Thatsächlich liegt der ja- panischen Verfassung die preußische zu Grunde. Es
Wenn man ſie aber zufällig einmal kennen lernt, ſo ſieht man zu ſeinem Erſtaunen junge Leute, unter deren Naſe ein noch unbeſtimmbarer Flaum dunkel auf die Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet. Der deutſche Jüngling wagt es kaum, politiſche Anſichten zu haben; der japaniſche aber iſt kühn genug, die ſeinigen zum Gegenſtand öffentlicher Reden oder großer Leit- artikel zu machen, und mit dem größten Ernſt, wie ihn nur eine ungeheure Selbſtſchätzung erzeugen kann, weiß- haarigen Staatsmännern Vorleſungen über auswärtige Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des deutſchen Reichstags geſeſſen, und was mir bei dem Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder ganzer Kahlköpfe. Ich ſaß auch auf der Tribüne des japaniſchen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich hier vergeblich umgeſehen.
So finden wir hier und da Dinge im politiſchen Leben, die wir als Mängel und Auswüchſe bezeichnen müſſen. Aber wie dem auch ſein mag, der politiſch- patriotiſche Sinn als ſolcher bleibt beſtehen, ein Gemeinſinn, wie er ſich unter den Völkern der Erde kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be- gegnen hier wiederum dem beherrſchenden Einfluß des Konfuzius, welcher, neben dem Familienſinn „kō“ und aus ihm patriarchaliſch herauswachſend, den Gemeinſinn „chū“ als zweites, in ſeinen Wirkungen geradezu reli- giöſes Dogma aufſtellte. Im Beſitze dieſer Tugend ſind die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu- kunft ſein.
Japan iſt eine konſtitutionelle Monarchie in dem- ſelben Sinne wie Preußen. Thatſächlich liegt der ja- paniſchen Verfaſſung die preußiſche zu Grunde. Es
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Wenn man ſie aber zufällig einmal kennen lernt, ſo
ſieht man zu ſeinem Erſtaunen junge Leute, unter deren
Naſe ein noch unbeſtimmbarer Flaum dunkel auf die
Möglichkeit eines zukünftigen Schnurrbarts hindeutet.
Der deutſche Jüngling wagt es kaum, politiſche Anſichten
zu haben; der japaniſche aber iſt kühn genug, die ſeinigen
zum Gegenſtand öffentlicher Reden oder großer Leit-
artikel zu machen, und mit dem größten Ernſt, wie ihn
nur eine ungeheure Selbſtſchätzung erzeugen kann, weiß-
haarigen Staatsmännern Vorleſungen über auswärtige
Politik zu halten. Ich habe auf der Tribüne des
deutſchen Reichstags geſeſſen, und was mir bei dem
Blick hinab auffiel, war die große Anzahl halber oder
ganzer Kahlköpfe. Ich ſaß auch auf der Tribüne des
japaniſchen Parlaments; aber nach Kahlköpfen oder
auch nur nach grauhaarigen Abgeordneten habe ich mich
hier vergeblich umgeſehen.
So finden wir hier und da Dinge im politiſchen
Leben, die wir als Mängel und Auswüchſe bezeichnen
müſſen. Aber wie dem auch ſein mag, der politiſch-
patriotiſche Sinn als ſolcher bleibt beſtehen, ein
Gemeinſinn, wie er ſich unter den Völkern der Erde
kaum noch zum zweitenmal wiederfindet. Wir be-
gegnen hier wiederum dem beherrſchenden Einfluß des
Konfuzius, welcher, neben dem Familienſinn „kō“ und
aus ihm patriarchaliſch herauswachſend, den Gemeinſinn
„chū“ als zweites, in ſeinen Wirkungen geradezu reli-
giöſes Dogma aufſtellte. Im Beſitze dieſer Tugend ſind
die Japaner als Volk groß, und werden es auch in Zu-
kunft ſein.
Japan iſt eine konſtitutionelle Monarchie in dem-
ſelben Sinne wie Preußen. Thatſächlich liegt der ja-
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/181>, abgerufen am 24.11.2024.
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