dem Wachsen der Ansprüche und Lebensbedürfnisse eine radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe- jahre bedeutend hinausschieben; aber bislang pflegten sich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und sich von ihnen ernähren zu lassen. Ob sie Vermögen haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob sie noch kräftig genug sind, zu arbeiten und sich selbst durchzubringen, das ist ganz gleichgültig. Das Los des "Go-Inkyosama" ist aber auch gar zu verlockend. Man führt ein Leben in beschaulicher Muße und überläßt die Sorgen den andern. Auch die Frau sieht dann noch behagliche Tage, die schönsten ihres Lebens. Von den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra- gen, und bei jedermann sind sie geehrt und geachtet. Denn hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: "Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren!"
Es sind aber nicht die Eltern allein, welche man zu unterstützen gewohnt ist. Bei dem ausgeprägten Familiensinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl und Wehe aller Familienglieder. Insbesondere ist der älteste Sohn nicht umsonst auch der alleinige Erbe. Im Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger derselben als Bettler auf der Straße umherliefe. So lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von einem Familienkommunismus zu reden. Auch das Adoptionssystem ist ein vortreffliches Mittel, der Ver- armung zu steuern. Viele Sprossen verarmter Familien oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption Unterkunft und gute Versorgung. Japan zeichnet sich nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meisten
dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe- jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des „Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra- gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“
Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von einem Familienkommunismus zu reden. Auch das Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver- armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0167"n="153"/>
dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine<lb/>
radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe-<lb/>
jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten<lb/>ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den<lb/>
Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und<lb/>ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen<lb/>
haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob<lb/>ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt<lb/>
durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des<lb/>„Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man<lb/>
führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt<lb/>
die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann<lb/>
noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von<lb/>
den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra-<lb/>
gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn<lb/>
hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem<lb/>
grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“</p><lb/><p>Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man<lb/>
zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten<lb/>
Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl<lb/>
und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der<lb/>
älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im<lb/>
Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die<lb/>
Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine<lb/>
Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger<lb/>
derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So<lb/>
lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne<lb/>
Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von<lb/>
einem Familienkommunismus zu reden. Auch das<lb/>
Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver-<lb/>
armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien<lb/>
oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption<lb/>
Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich<lb/>
nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten<lb/></p></div></body></text></TEI>
[153/0167]
dem Wachſen der Anſprüche und Lebensbedürfniſſe eine
radikale Änderung bringen und den Beginn der Ruhe-
jahre bedeutend hinausſchieben; aber bislang pflegten
ſich die Eltern mit fünfzig Jahren zurückzuziehen, den
Jungen die Sorgen des Regiments zu übertragen und
ſich von ihnen ernähren zu laſſen. Ob ſie Vermögen
haben oder nicht oder vielleicht gar noch Schulden; ob
ſie noch kräftig genug ſind, zu arbeiten und ſich ſelbſt
durchzubringen, das iſt ganz gleichgültig. Das Los des
„Go-Inkyoſama“ iſt aber auch gar zu verlockend. Man
führt ein Leben in beſchaulicher Muße und überläßt
die Sorgen den andern. Auch die Frau ſieht dann
noch behagliche Tage, die ſchönſten ihres Lebens. Von
den Ihrigen werden die alten Leute auf den Händen getra-
gen, und bei jedermann ſind ſie geehrt und geachtet. Denn
hier hat das Gebot noch unbedingte Kraft: „Vor einem
grauen Haupte ſollſt du aufſtehen und die Alten ehren!“
Es ſind aber nicht die Eltern allein, welche man
zu unterſtützen gewohnt iſt. Bei dem ausgeprägten
Familienſinn nimmt man warmen Anteil an dem Wohl
und Wehe aller Familienglieder. Insbeſondere iſt der
älteſte Sohn nicht umſonſt auch der alleinige Erbe. Im
Falle ein Glied der Familie in Not gerät, hat er die
Pflicht, ihm unter die Arme zu greifen. Es wäre eine
Schande für die ganze Familie, falls ein Angehöriger
derſelben als Bettler auf der Straße umherliefe. So
lange die Familie noch etwas hat, hat auch das einzelne
Glied noch etwas. Es wäre nicht ganz unrichtig, von
einem Familienkommunismus zu reden. Auch das
Adoptionsſyſtem iſt ein vortreffliches Mittel, der Ver-
armung zu ſteuern. Viele Sproſſen verarmter Familien
oder nachgeborene Söhne finden durch die Adoption
Unterkunft und gute Verſorgung. Japan zeichnet ſich
nicht durch Wohlhabenheit aus; weitaus den meiſten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/167>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.