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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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noch nicht aufgethan. Aber leider entspricht der ästhe-
tischen Lichtseite des Naturkindes immer auch eine ethische
Schattenseite. Der Japaner giebt seinen natürlich sinn-
lichen Trieben allzusehr nach. Thatsächlich sind in
Japan der Unsittlichkeit im engeren Sinne des Wortes
Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im christlichen
Europa. Das Prostitutionswesen ist ungemein aus-
gedehnt. In Tokyo ist ein ganzer großer Stadtteil,
und zwar bezeichnender Weise der schönsten einer, dem
Dienst der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, so ist
es in allen Städten des Landes. Selbst in einer kleinen
Stadt von nur fünftausend Einwohnern habe ich neben
einander drei Häuser der Unzucht gesehen. Ein guter
Teil der Theehausmädchen ist nichts weiter als Freuden-
mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und
Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten
Geisha ist keineswegs die beste. Das alles ist wahr.

Aber zum richtigen Verständnis ist es notwendig
zu wissen, daß die Japaner in diesem einen Punkt ein
Naturvolk geblieben sind; und dieser Umstand macht
das unsittliche Treiben in Japan weniger sündhaft als
in christlichen Landen. Selbst feinfühlige Naturen
empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als schlecht,
wie der Christ das thut. Es ist eine gewisse Naivetät,
wie sie ästhetisch veranlagten Menschen manchmal eigen
ist, die ihre Beurteilung derartiger Dinge bestimmt.
Das Bewußtsein des Unerlaubten ist äußerst schwach,
auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreisen. Frei-
lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals
dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängstlich
gehütet, und seine fleckenlose Reinheit steht, für die Klasse
nicht allein, sondern für das einzelne Individuum, über
jeden Zweifel erhaben. Es sind vielmehr die untersten

noch nicht aufgethan. Aber leider entſpricht der äſthe-
tiſchen Lichtſeite des Naturkindes immer auch eine ethiſche
Schattenſeite. Der Japaner giebt ſeinen natürlich ſinn-
lichen Trieben allzuſehr nach. Thatſächlich ſind in
Japan der Unſittlichkeit im engeren Sinne des Wortes
Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im chriſtlichen
Europa. Das Proſtitutionsweſen iſt ungemein aus-
gedehnt. In Tokyo iſt ein ganzer großer Stadtteil,
und zwar bezeichnender Weiſe der ſchönſten einer, dem
Dienſt der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, ſo iſt
es in allen Städten des Landes. Selbſt in einer kleinen
Stadt von nur fünftauſend Einwohnern habe ich neben
einander drei Häuſer der Unzucht geſehen. Ein guter
Teil der Theehausmädchen iſt nichts weiter als Freuden-
mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und
Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten
Geiſha iſt keineswegs die beſte. Das alles iſt wahr.

Aber zum richtigen Verſtändnis iſt es notwendig
zu wiſſen, daß die Japaner in dieſem einen Punkt ein
Naturvolk geblieben ſind; und dieſer Umſtand macht
das unſittliche Treiben in Japan weniger ſündhaft als
in chriſtlichen Landen. Selbſt feinfühlige Naturen
empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als ſchlecht,
wie der Chriſt das thut. Es iſt eine gewiſſe Naivetät,
wie ſie äſthetiſch veranlagten Menſchen manchmal eigen
iſt, die ihre Beurteilung derartiger Dinge beſtimmt.
Das Bewußtſein des Unerlaubten iſt äußerſt ſchwach,
auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreiſen. Frei-
lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals
dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängſtlich
gehütet, und ſeine fleckenloſe Reinheit ſteht, für die Klaſſe
nicht allein, ſondern für das einzelne Individuum, über
jeden Zweifel erhaben. Es ſind vielmehr die unterſten

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[144/0158] noch nicht aufgethan. Aber leider entſpricht der äſthe- tiſchen Lichtſeite des Naturkindes immer auch eine ethiſche Schattenſeite. Der Japaner giebt ſeinen natürlich ſinn- lichen Trieben allzuſehr nach. Thatſächlich ſind in Japan der Unſittlichkeit im engeren Sinne des Wortes Thür und Thor noch mehr geöffnet, als im chriſtlichen Europa. Das Proſtitutionsweſen iſt ungemein aus- gedehnt. In Tokyo iſt ein ganzer großer Stadtteil, und zwar bezeichnender Weiſe der ſchönſten einer, dem Dienſt der Aphrodite gewidmet. Und wie hier, ſo iſt es in allen Städten des Landes. Selbſt in einer kleinen Stadt von nur fünftauſend Einwohnern habe ich neben einander drei Häuſer der Unzucht geſehen. Ein guter Teil der Theehausmädchen iſt nichts weiter als Freuden- mädchen, und die Tugend der Sängerinnen und Tänzerinnen, der weltberühmten und weltberüchtigten Geiſha iſt keineswegs die beſte. Das alles iſt wahr. Aber zum richtigen Verſtändnis iſt es notwendig zu wiſſen, daß die Japaner in dieſem einen Punkt ein Naturvolk geblieben ſind; und dieſer Umſtand macht das unſittliche Treiben in Japan weniger ſündhaft als in chriſtlichen Landen. Selbſt feinfühlige Naturen empfinden die Unzucht nicht in dem Sinne als ſchlecht, wie der Chriſt das thut. Es iſt eine gewiſſe Naivetät, wie ſie äſthetiſch veranlagten Menſchen manchmal eigen iſt, die ihre Beurteilung derartiger Dinge beſtimmt. Das Bewußtſein des Unerlaubten iſt äußerſt ſchwach, auch in gebildeten und gut bürgerlichen Kreiſen. Frei- lich ihre Töchter würden bürgerliche Familien niemals dazu hergeben. Das bürgerliche Mädchen wird ängſtlich gehütet, und ſeine fleckenloſe Reinheit ſteht, für die Klaſſe nicht allein, ſondern für das einzelne Individuum, über jeden Zweifel erhaben. Es ſind vielmehr die unterſten

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/158>, abgerufen am 28.11.2024.