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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Ich habe einmal in einer christlichen Ethik gelesen,
daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die
natürliche Tugend der Frau die Sanftmut sei. Wenn
man nach Japan urteilen darf, so ist das eine un-
zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel sagt:
"Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen", so
ist auch dieses in vielen japanischen Häusern, wo die
Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut sich die
ihr gebührende Stellung als der gute Geist des Hauses
erobert hat, schöne Wahrheit geworden. Ja, ihre
Stellung mag unter Umständen noch eine ganz andere
werden. Ein Sprichwort sagt:

"Wenn im Haus die Henne kräht,
Bald das Haus in Trümmer geht".

Und so bezeichnend dieses Sprichwort ist für die
stille Zurückhaltung, deren sich die Frau befleißigen soll,
so deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle
geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle spielt.

Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japanischen
Familien- und Frauenlebens malen will, sieht sich wohl
oder übel genötigt, auch zu düsteren Farben zu greifen.
Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erstaunt
sind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, so viel
Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers
zu finden, im Gegensatz zu den Chinesen, welche stets
dezent gekleidet sind. Ich habe nicht wenig Reisende
getroffen, welche darüber in moralische Entrüstung aus-
brachen. Sie hätten sich nicht so zu ereifern brauchen.
Für den Japaner ist das harmlos. In seinem Kopf
steigen dabei keine sündhaften Bilder auf, wie in manches
Abendländers verdorbener Phantasie. Für den sinnlichen
Reiz der Nudität sind die Augen dieser Naturkinder

Ich habe einmal in einer chriſtlichen Ethik geleſen,
daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die
natürliche Tugend der Frau die Sanftmut ſei. Wenn
man nach Japan urteilen darf, ſo iſt das eine un-
zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel ſagt:
„Die Sanftmütigen werden das Erdreich beſitzen“, ſo
iſt auch dieſes in vielen japaniſchen Häuſern, wo die
Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut ſich die
ihr gebührende Stellung als der gute Geiſt des Hauſes
erobert hat, ſchöne Wahrheit geworden. Ja, ihre
Stellung mag unter Umſtänden noch eine ganz andere
werden. Ein Sprichwort ſagt:

„Wenn im Haus die Henne kräht,
Bald das Haus in Trümmer geht“.

Und ſo bezeichnend dieſes Sprichwort iſt für die
ſtille Zurückhaltung, deren ſich die Frau befleißigen ſoll,
ſo deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle
geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle ſpielt.

Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japaniſchen
Familien- und Frauenlebens malen will, ſieht ſich wohl
oder übel genötigt, auch zu düſteren Farben zu greifen.
Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erſtaunt
ſind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, ſo viel
Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers
zu finden, im Gegenſatz zu den Chineſen, welche ſtets
dezent gekleidet ſind. Ich habe nicht wenig Reiſende
getroffen, welche darüber in moraliſche Entrüſtung aus-
brachen. Sie hätten ſich nicht ſo zu ereifern brauchen.
Für den Japaner iſt das harmlos. In ſeinem Kopf
ſteigen dabei keine ſündhaften Bilder auf, wie in manches
Abendländers verdorbener Phantaſie. Für den ſinnlichen
Reiz der Nudität ſind die Augen dieſer Naturkinder

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[143/0157] Ich habe einmal in einer chriſtlichen Ethik geleſen, daß die natürliche Tugend des Mannes der Mut, die natürliche Tugend der Frau die Sanftmut ſei. Wenn man nach Japan urteilen darf, ſo iſt das eine un- zweifelhafte Wahrheit. Wenn aber die Bibel ſagt: „Die Sanftmütigen werden das Erdreich beſitzen“, ſo iſt auch dieſes in vielen japaniſchen Häuſern, wo die Frau gerade durch ihre bezwingende Sanftmut ſich die ihr gebührende Stellung als der gute Geiſt des Hauſes erobert hat, ſchöne Wahrheit geworden. Ja, ihre Stellung mag unter Umſtänden noch eine ganz andere werden. Ein Sprichwort ſagt: „Wenn im Haus die Henne kräht, Bald das Haus in Trümmer geht“. Und ſo bezeichnend dieſes Sprichwort iſt für die ſtille Zurückhaltung, deren ſich die Frau befleißigen ſoll, ſo deutet es doch zugleich an, daß es vereinzelte Fälle geben mag, wo der Pantoffel eine Rolle ſpielt. Wer ein wahrheitsgetreues Bild des japaniſchen Familien- und Frauenlebens malen will, ſieht ſich wohl oder übel genötigt, auch zu düſteren Farben zu greifen. Es giebt wohl wenige Europäer, welche nicht erſtaunt ſind, in einem Kulturvolk, wie die Japaner, ſo viel Nudität einzelner Körperteile und des ganzen Körpers zu finden, im Gegenſatz zu den Chineſen, welche ſtets dezent gekleidet ſind. Ich habe nicht wenig Reiſende getroffen, welche darüber in moraliſche Entrüſtung aus- brachen. Sie hätten ſich nicht ſo zu ereifern brauchen. Für den Japaner iſt das harmlos. In ſeinem Kopf ſteigen dabei keine ſündhaften Bilder auf, wie in manches Abendländers verdorbener Phantaſie. Für den ſinnlichen Reiz der Nudität ſind die Augen dieſer Naturkinder

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/157>, abgerufen am 24.11.2024.