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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Rechte Gebrauch machen, ist nicht mehr als menschliche
Art. Gleichwohl -- und das verdient hervorgehoben
zu werden -- ist in den besseren Ständen des Volkes
die Ehescheidung verhältnismäßig selten. Trotz der
loseren moralischen Grundsätze hat man hier eine eben-
so große Scheu vor dem Skandal wie im christlichen
Deutschland. Um dieses Skandals willen liegt es im
Interesse der Familie, die allzusehr erleichterte Scheidung
durch die Familienpolizei zu erschweren. Eine große
Gewissenhaftigkeit ist dabei unverkennbar. Alles wird
versucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn
aber alles vergebens ist, so tritt als höchste Instanz der
Familienrat zusammen, um den Urteilsspruch zu fällen.
Es ist ein Familiengericht, welchem sich jedes Glied der
Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen
Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier
spielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer
Hand setzt man sich hin und schreibt den Scheidebrief,
der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen besteht. Da-
her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks-
brief gilt und von abergläubischen Leuten peinlich ver-
mieden wird. Auf diesen Brief hin wird der Name der
Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöscht, und alles
ist wie zuvor.

Lange pflegt es aber nicht zu dauern, so hat der
Mann wieder eine andere Frau, und thatsächlich giebt
es Männer, von welchen sich mit einer kleinen Text-
änderung eines biblischen Wortes sagen läßt: "Fünf
Frauen hast du gehabt; und die du nun hast, das ist nicht
deine Frau". Daß unter diesen Umständen die christ-
lichen Kirchen auf die Ehescheidung überhaupt, ganz
ohne Rücksicht auf die Gründe, die Ausstoßung aus
der Gemeinde als Strafe gesetzt haben, kann ihnen nur
zur Ehre gereichen.

Rechte Gebrauch machen, iſt nicht mehr als menſchliche
Art. Gleichwohl — und das verdient hervorgehoben
zu werden — iſt in den beſſeren Ständen des Volkes
die Eheſcheidung verhältnismäßig ſelten. Trotz der
loſeren moraliſchen Grundſätze hat man hier eine eben-
ſo große Scheu vor dem Skandal wie im chriſtlichen
Deutſchland. Um dieſes Skandals willen liegt es im
Intereſſe der Familie, die allzuſehr erleichterte Scheidung
durch die Familienpolizei zu erſchweren. Eine große
Gewiſſenhaftigkeit iſt dabei unverkennbar. Alles wird
verſucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn
aber alles vergebens iſt, ſo tritt als höchſte Inſtanz der
Familienrat zuſammen, um den Urteilsſpruch zu fällen.
Es iſt ein Familiengericht, welchem ſich jedes Glied der
Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen
Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier
ſpielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer
Hand ſetzt man ſich hin und ſchreibt den Scheidebrief,
der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen beſteht. Da-
her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks-
brief gilt und von abergläubiſchen Leuten peinlich ver-
mieden wird. Auf dieſen Brief hin wird der Name der
Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöſcht, und alles
iſt wie zuvor.

Lange pflegt es aber nicht zu dauern, ſo hat der
Mann wieder eine andere Frau, und thatſächlich giebt
es Männer, von welchen ſich mit einer kleinen Text-
änderung eines bibliſchen Wortes ſagen läßt: „Fünf
Frauen haſt du gehabt; und die du nun haſt, das iſt nicht
deine Frau“. Daß unter dieſen Umſtänden die chriſt-
lichen Kirchen auf die Eheſcheidung überhaupt, ganz
ohne Rückſicht auf die Gründe, die Ausſtoßung aus
der Gemeinde als Strafe geſetzt haben, kann ihnen nur
zur Ehre gereichen.

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[134/0148] Rechte Gebrauch machen, iſt nicht mehr als menſchliche Art. Gleichwohl — und das verdient hervorgehoben zu werden — iſt in den beſſeren Ständen des Volkes die Eheſcheidung verhältnismäßig ſelten. Trotz der loſeren moraliſchen Grundſätze hat man hier eine eben- ſo große Scheu vor dem Skandal wie im chriſtlichen Deutſchland. Um dieſes Skandals willen liegt es im Intereſſe der Familie, die allzuſehr erleichterte Scheidung durch die Familienpolizei zu erſchweren. Eine große Gewiſſenhaftigkeit iſt dabei unverkennbar. Alles wird verſucht, um die Streitpunkte in Güte beizulegen. Wenn aber alles vergebens iſt, ſo tritt als höchſte Inſtanz der Familienrat zuſammen, um den Urteilsſpruch zu fällen. Es iſt ein Familiengericht, welchem ſich jedes Glied der Familie unweigerlich zu fügen hat. Unter dem gemeinen Volk dagegen nimmt man die Trennung leichter. Hier ſpielt ja die Familienehre keine große Rolle. Kurzer Hand ſetzt man ſich hin und ſchreibt den Scheidebrief, der unvermeidlich aus dreieinhalb Zeilen beſteht. Da- her denn jeder dreieinhalbzeilige Brief als ein Unglücks- brief gilt und von abergläubiſchen Leuten peinlich ver- mieden wird. Auf dieſen Brief hin wird der Name der Frau auf dem Bezirksbureau wieder gelöſcht, und alles iſt wie zuvor. Lange pflegt es aber nicht zu dauern, ſo hat der Mann wieder eine andere Frau, und thatſächlich giebt es Männer, von welchen ſich mit einer kleinen Text- änderung eines bibliſchen Wortes ſagen läßt: „Fünf Frauen haſt du gehabt; und die du nun haſt, das iſt nicht deine Frau“. Daß unter dieſen Umſtänden die chriſt- lichen Kirchen auf die Eheſcheidung überhaupt, ganz ohne Rückſicht auf die Gründe, die Ausſtoßung aus der Gemeinde als Strafe geſetzt haben, kann ihnen nur zur Ehre gereichen.

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/148>, abgerufen am 22.11.2024.