hatte. Bei den Japanern war das so selbstverständlich, daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten von einem, nach der herrschenden Ansicht oder nach des Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des Bauchaufschlitzens zurückzuhalten.
Das sind Fälle einer auffallenden Sentimentalität, die fast immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und falschen Vorstellungen von Ehre zusammenhängen. In Zeiten großer Erregung werden dieselben epidemisch, wie eine ansteckende Krankheit, um dann wieder wie diese für lange Zeit ganz zu verschwinden. In diesem Zeitalter der praktischen Wirklichkeit freilich, in welches Japan jetzt eingetreten ist, dürfte es dieser krankhaften Erscheinung genau so gehen wie auch den epidemischen Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende schaffende Menschengeist drängt sie zurück.
Da die eben erwähnten sentimentalen Erscheinungen nicht normal, sondern krankhaft, nicht dauernd, sondern zeitlich sind, so läßt sich aus ihnen auf eine besondere Gefühlsstärke nicht schließen. Mit viel mehr Recht könnte man von einer gewissen Gefühlshärte sprechen. Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieselbe selten. Das Betragen ist tadellos. Wären die Japaner Kinder, so dürfte man sie in vollem Sinne Musterkinder nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit ist wirklich mustergiltig. Mancher deutsche Familienvater weiß sie nicht einmal im eigenen Hause zu schaffen; hier umfaßt sie ein ganzes Volk. Aber bei den sogenannten muster- haften Menschen findet man es häufig, daß die Form auf Kosten des Herzens, der formelle Takt auf Kosten des Herzenstaktes geht. So zeigt sich auch hier, daß das starre Einzwängen in die Etikette manchen zarten Trieb des Herzens und Gemüts an der Entfaltung
hatte. Bei den Japanern war das ſo ſelbſtverſtändlich, daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten von einem, nach der herrſchenden Anſicht oder nach des Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des Bauchaufſchlitzens zurückzuhalten.
Das ſind Fälle einer auffallenden Sentimentalität, die faſt immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und falſchen Vorſtellungen von Ehre zuſammenhängen. In Zeiten großer Erregung werden dieſelben epidemiſch, wie eine anſteckende Krankheit, um dann wieder wie dieſe für lange Zeit ganz zu verſchwinden. In dieſem Zeitalter der praktiſchen Wirklichkeit freilich, in welches Japan jetzt eingetreten iſt, dürfte es dieſer krankhaften Erſcheinung genau ſo gehen wie auch den epidemiſchen Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende ſchaffende Menſchengeiſt drängt ſie zurück.
Da die eben erwähnten ſentimentalen Erſcheinungen nicht normal, ſondern krankhaft, nicht dauernd, ſondern zeitlich ſind, ſo läßt ſich aus ihnen auf eine beſondere Gefühlsſtärke nicht ſchließen. Mit viel mehr Recht könnte man von einer gewiſſen Gefühlshärte ſprechen. Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieſelbe ſelten. Das Betragen iſt tadellos. Wären die Japaner Kinder, ſo dürfte man ſie in vollem Sinne Muſterkinder nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit iſt wirklich muſtergiltig. Mancher deutſche Familienvater weiß ſie nicht einmal im eigenen Hauſe zu ſchaffen; hier umfaßt ſie ein ganzes Volk. Aber bei den ſogenannten muſter- haften Menſchen findet man es häufig, daß die Form auf Koſten des Herzens, der formelle Takt auf Koſten des Herzenstaktes geht. So zeigt ſich auch hier, daß das ſtarre Einzwängen in die Etikette manchen zarten Trieb des Herzens und Gemüts an der Entfaltung
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hatte. Bei den Japanern war das ſo ſelbſtverſtändlich,
daß es keiner Gattin je eingefallen wäre, ihren Gatten
von einem, nach der herrſchenden Anſicht oder nach des
Gatten Einbildung notwendig gewordenen Akte des
Bauchaufſchlitzens zurückzuhalten.
Das ſind Fälle einer auffallenden Sentimentalität,
die faſt immer mit übertriebener Vaterlandsliebe und
falſchen Vorſtellungen von Ehre zuſammenhängen. In
Zeiten großer Erregung werden dieſelben epidemiſch,
wie eine anſteckende Krankheit, um dann wieder wie
dieſe für lange Zeit ganz zu verſchwinden. In dieſem
Zeitalter der praktiſchen Wirklichkeit freilich, in welches
Japan jetzt eingetreten iſt, dürfte es dieſer krankhaften
Erſcheinung genau ſo gehen wie auch den epidemiſchen
Krankheiten der Cholera und der Pocken: Der denkende
ſchaffende Menſchengeiſt drängt ſie zurück.
Da die eben erwähnten ſentimentalen Erſcheinungen
nicht normal, ſondern krankhaft, nicht dauernd, ſondern
zeitlich ſind, ſo läßt ſich aus ihnen auf eine beſondere
Gefühlsſtärke nicht ſchließen. Mit viel mehr Recht
könnte man von einer gewiſſen Gefühlshärte ſprechen.
Freilich rohen thätlichen Ausdruck erhält dieſelbe ſelten.
Das Betragen iſt tadellos. Wären die Japaner Kinder,
ſo dürfte man ſie in vollem Sinne Muſterkinder
nennen. Die Wohlerzogenheit, die Artigkeit iſt wirklich
muſtergiltig. Mancher deutſche Familienvater weiß ſie
nicht einmal im eigenen Hauſe zu ſchaffen; hier umfaßt
ſie ein ganzes Volk. Aber bei den ſogenannten muſter-
haften Menſchen findet man es häufig, daß die Form
auf Koſten des Herzens, der formelle Takt auf Koſten
des Herzenstaktes geht. So zeigt ſich auch hier, daß
das ſtarre Einzwängen in die Etikette manchen zarten
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/136>, abgerufen am 24.11.2024.
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