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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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An Stelle des echten Gefühls aber, welches als
unversiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit
lebendig ist, finden sich merkwürdigerweise nicht selten
momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und
rasch wieder gehen. Sie sind nicht sowohl wahres
Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, sentimentale
Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach sind sie als
akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar sind es
sehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragischen
Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im
japanisch-chinesischen Krieg kam es manchmal vor, daß
der oder jener sich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt
war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als
Schande, die sie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891
beging ein auf Yezo stationierter Offizier im Angesichte der
Gräber seiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufschlitzen).
Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe
seiner That auseinandersetzte, und ordnete an, daß der-
selbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geschickt
werden sollte. Diesem Brief zufolge hatte der Offizier
mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland
über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan
in große Gefahr bringen werde. Da er sich aber sagte,
daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört
werden würden, so beschloß er, sich zu töten, da aus
dem Grabe heraus seine Stimme ernster und eindring-
licher an die Herzen seiner Landsleute dringen werde.
Dieser ganze Vorgang ist durch und durch japanisch.
Als der russische Thronfolger durch einen Fanatiker ver-
wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert
Kilometer weit nach Kioto gereist, stellte sich vor den alten
Kaiserpalast und nahm sich selbst das Leben, um, wie sie
sagte, eine Sühne zu bringen für das Verbrechen der Nation.

An Stelle des echten Gefühls aber, welches als
unverſiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit
lebendig iſt, finden ſich merkwürdigerweiſe nicht ſelten
momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und
raſch wieder gehen. Sie ſind nicht ſowohl wahres
Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, ſentimentale
Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach ſind ſie als
akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar ſind es
ſehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragiſchen
Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im
japaniſch-chineſiſchen Krieg kam es manchmal vor, daß
der oder jener ſich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt
war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als
Schande, die ſie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891
beging ein auf Yezo ſtationierter Offizier im Angeſichte der
Gräber ſeiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufſchlitzen).
Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe
ſeiner That auseinanderſetzte, und ordnete an, daß der-
ſelbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geſchickt
werden ſollte. Dieſem Brief zufolge hatte der Offizier
mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland
über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan
in große Gefahr bringen werde. Da er ſich aber ſagte,
daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört
werden würden, ſo beſchloß er, ſich zu töten, da aus
dem Grabe heraus ſeine Stimme ernſter und eindring-
licher an die Herzen ſeiner Landsleute dringen werde.
Dieſer ganze Vorgang iſt durch und durch japaniſch.
Als der ruſſiſche Thronfolger durch einen Fanatiker ver-
wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert
Kilometer weit nach Kioto gereiſt, ſtellte ſich vor den alten
Kaiſerpalaſt und nahm ſich ſelbſt das Leben, um, wie ſie
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[120/0134] An Stelle des echten Gefühls aber, welches als unverſiegbarer Quell in der Tiefe des Herzens allzeit lebendig iſt, finden ſich merkwürdigerweiſe nicht ſelten momentane Gefühlsausbrüche, die plötzlich kommen und raſch wieder gehen. Sie ſind nicht ſowohl wahres Gefühl als vielmehr Gefühlskarikaturen, ſentimentale Anwandlungen. Ihrer ganzen Natur nach ſind ſie als akute Erkrankungen zu bezeichnen. Und zwar ſind es ſehr gefährliche Erkrankungen, die häufig einen tragiſchen Ausgang nehmen und mit dem Tode enden. Im japaniſch-chineſiſchen Krieg kam es manchmal vor, daß der oder jener ſich entleibte, weil es ihm nicht vergönnt war, am Kampfe teilzunehmen. Sie betrachteten das als Schande, die ſie nicht überleben wollten. Im Jahre 1891 beging ein auf Yezo ſtationierter Offizier im Angeſichte der Gräber ſeiner Ahnen in Tokyo Harakiri (Bauchaufſchlitzen). Er hinterließ einen Brief, in welchem er die Gründe ſeiner That auseinanderſetzte, und ordnete an, daß der- ſelbe an alle Zeitungen zur Veröffentlichung geſchickt werden ſollte. Dieſem Brief zufolge hatte der Offizier mehr als ein Jahrzehnt darüber gebrütet, daß Rußland über kurz oder lang von Norden her einfallen und Japan in große Gefahr bringen werde. Da er ſich aber ſagte, daß alle Warnungen von ihm, dem Lebenden, überhört werden würden, ſo beſchloß er, ſich zu töten, da aus dem Grabe heraus ſeine Stimme ernſter und eindring- licher an die Herzen ſeiner Landsleute dringen werde. Dieſer ganze Vorgang iſt durch und durch japaniſch. Als der ruſſiſche Thronfolger durch einen Fanatiker ver- wundet worden war, kam eine Frau über dreihundert Kilometer weit nach Kioto gereiſt, ſtellte ſich vor den alten Kaiſerpalaſt und nahm ſich ſelbſt das Leben, um, wie ſie ſagte, eine Sühne zu bringen für das Verbrechen der Nation.

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/134>, abgerufen am 28.11.2024.