Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

enge mit einander verbunden sind. Was wunder, wenn
manche Europäer, und selbst gute Kenner des japanischen
Volkes der Ansicht sind, daß sie fast jedes Gefühles
bar sind. Gleichwohl geht dieses Urteil entschieden zu
weit. Der Japaner ist durch Frau Etikette Schau-
spieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte,
so bin ich überzeugt, daß er dann gerade erst recht Ge-
fühl heucheln würde. Wenn er aber mit seinem Gesicht
lacht, so mag er sehr wohl mit seinem Herzen weinen.
Thatsächlich habe ich manche gesehen, die mir mit
lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er-
zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über
die Wangen rannen. Die scheinbare Gleichgiltigkeit
ist zu einem guten Teil eben nur scheinbar, verdeckt
durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an
mir selbst bei schweren Verlusten, die mich betroffen
hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken
die Erfahrung machen müssen, daß die japanische Art
auch auf mich ansteckend wirkte, während es mir doch
im innersten Herzen wahrlich nicht so zu Mute war.

Gleichwohl steht es dem sorgfältigen Beobachter
aus tausend kleinen Zügen und feinen Empfindungen,
die sich durch Beispiele schwer belegen lassen, fest, daß
ihr Gefühl nicht so tief ist wie das unsrige, daß sie
ein Gefühls- und Gemütsleben in unserm Sinn über-
haupt nicht führen. Schon die ganze ästhetische Er-
ziehung mit ihrer Wertschätzung des Harmonischen,
Heiteren und Sonnigen ist nicht darauf angelegt, sie
irgendwie für den düsteren Ernst des Lebens empfäng-
lich zu machen. Elastisch, wie Naturell und Erziehung
sie geschaffen haben, gehen sie mit einem leichten:
"Shikata ga nai", "Es läßt sich nichts machen", über
das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.

enge mit einander verbunden ſind. Was wunder, wenn
manche Europäer, und ſelbſt gute Kenner des japaniſchen
Volkes der Anſicht ſind, daß ſie faſt jedes Gefühles
bar ſind. Gleichwohl geht dieſes Urteil entſchieden zu
weit. Der Japaner iſt durch Frau Etikette Schau-
ſpieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte,
ſo bin ich überzeugt, daß er dann gerade erſt recht Ge-
fühl heucheln würde. Wenn er aber mit ſeinem Geſicht
lacht, ſo mag er ſehr wohl mit ſeinem Herzen weinen.
Thatſächlich habe ich manche geſehen, die mir mit
lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er-
zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über
die Wangen rannen. Die ſcheinbare Gleichgiltigkeit
iſt zu einem guten Teil eben nur ſcheinbar, verdeckt
durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an
mir ſelbſt bei ſchweren Verluſten, die mich betroffen
hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken
die Erfahrung machen müſſen, daß die japaniſche Art
auch auf mich anſteckend wirkte, während es mir doch
im innerſten Herzen wahrlich nicht ſo zu Mute war.

Gleichwohl ſteht es dem ſorgfältigen Beobachter
aus tauſend kleinen Zügen und feinen Empfindungen,
die ſich durch Beiſpiele ſchwer belegen laſſen, feſt, daß
ihr Gefühl nicht ſo tief iſt wie das unſrige, daß ſie
ein Gefühls- und Gemütsleben in unſerm Sinn über-
haupt nicht führen. Schon die ganze äſthetiſche Er-
ziehung mit ihrer Wertſchätzung des Harmoniſchen,
Heiteren und Sonnigen iſt nicht darauf angelegt, ſie
irgendwie für den düſteren Ernſt des Lebens empfäng-
lich zu machen. Elaſtiſch, wie Naturell und Erziehung
ſie geſchaffen haben, gehen ſie mit einem leichten:
„Shikata ga nai“, „Es läßt ſich nichts machen“, über
das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0133" n="119"/>
enge mit einander verbunden &#x017F;ind. Was wunder, wenn<lb/>
manche Europäer, und &#x017F;elb&#x017F;t gute Kenner des japani&#x017F;chen<lb/>
Volkes der An&#x017F;icht &#x017F;ind, daß &#x017F;ie fa&#x017F;t jedes Gefühles<lb/>
bar &#x017F;ind. Gleichwohl geht die&#x017F;es Urteil ent&#x017F;chieden zu<lb/>
weit. Der Japaner i&#x017F;t durch Frau Etikette Schau-<lb/>
&#x017F;pieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte,<lb/>
&#x017F;o bin ich überzeugt, daß er dann gerade er&#x017F;t recht Ge-<lb/>
fühl heucheln würde. Wenn er aber mit &#x017F;einem Ge&#x017F;icht<lb/>
lacht, &#x017F;o mag er &#x017F;ehr wohl mit &#x017F;einem Herzen weinen.<lb/>
That&#x017F;ächlich habe ich manche ge&#x017F;ehen, die mir mit<lb/>
lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er-<lb/>
zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über<lb/>
die Wangen rannen. Die &#x017F;cheinbare Gleichgiltigkeit<lb/>
i&#x017F;t zu einem guten Teil eben nur &#x017F;cheinbar, verdeckt<lb/>
durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an<lb/>
mir &#x017F;elb&#x017F;t bei &#x017F;chweren Verlu&#x017F;ten, die mich betroffen<lb/>
hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken<lb/>
die Erfahrung machen mü&#x017F;&#x017F;en, daß die japani&#x017F;che Art<lb/>
auch auf mich an&#x017F;teckend wirkte, während es mir doch<lb/>
im inner&#x017F;ten Herzen wahrlich nicht &#x017F;o zu Mute war.</p><lb/>
        <p>Gleichwohl &#x017F;teht es dem &#x017F;orgfältigen Beobachter<lb/>
aus tau&#x017F;end kleinen Zügen und feinen Empfindungen,<lb/>
die &#x017F;ich durch Bei&#x017F;piele &#x017F;chwer belegen la&#x017F;&#x017F;en, fe&#x017F;t, daß<lb/>
ihr Gefühl nicht &#x017F;o tief i&#x017F;t wie das un&#x017F;rige, daß &#x017F;ie<lb/>
ein Gefühls- und Gemütsleben in un&#x017F;erm Sinn über-<lb/>
haupt nicht führen. Schon die ganze ä&#x017F;theti&#x017F;che Er-<lb/>
ziehung mit ihrer Wert&#x017F;chätzung des Harmoni&#x017F;chen,<lb/>
Heiteren und Sonnigen i&#x017F;t nicht darauf angelegt, &#x017F;ie<lb/>
irgendwie für den dü&#x017F;teren Ern&#x017F;t des Lebens empfäng-<lb/>
lich zu machen. Ela&#x017F;ti&#x017F;ch, wie Naturell und Erziehung<lb/>
&#x017F;ie ge&#x017F;chaffen haben, gehen &#x017F;ie mit einem leichten:<lb/><hi rendition="#aq">&#x201E;Shikata ga nai&#x201C;,</hi> &#x201E;Es läßt &#x017F;ich nichts machen&#x201C;, über<lb/>
das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0133] enge mit einander verbunden ſind. Was wunder, wenn manche Europäer, und ſelbſt gute Kenner des japaniſchen Volkes der Anſicht ſind, daß ſie faſt jedes Gefühles bar ſind. Gleichwohl geht dieſes Urteil entſchieden zu weit. Der Japaner iſt durch Frau Etikette Schau- ſpieler geworden, und wenn er wirklich nichts fühlte, ſo bin ich überzeugt, daß er dann gerade erſt recht Ge- fühl heucheln würde. Wenn er aber mit ſeinem Geſicht lacht, ſo mag er ſehr wohl mit ſeinem Herzen weinen. Thatſächlich habe ich manche geſehen, die mir mit lächelndem Mund von dem Tode ihrer Angehörigen er- zählten, und denen doch dabei die hellen Thränen über die Wangen rannen. Die ſcheinbare Gleichgiltigkeit iſt zu einem guten Teil eben nur ſcheinbar, verdeckt durch gewohnheitsmäßige Etikette. Habe ich doch an mir ſelbſt bei ſchweren Verluſten, die mich betroffen hatten, im Verkehr mit Japanern zu meinem Schrecken die Erfahrung machen müſſen, daß die japaniſche Art auch auf mich anſteckend wirkte, während es mir doch im innerſten Herzen wahrlich nicht ſo zu Mute war. Gleichwohl ſteht es dem ſorgfältigen Beobachter aus tauſend kleinen Zügen und feinen Empfindungen, die ſich durch Beiſpiele ſchwer belegen laſſen, feſt, daß ihr Gefühl nicht ſo tief iſt wie das unſrige, daß ſie ein Gefühls- und Gemütsleben in unſerm Sinn über- haupt nicht führen. Schon die ganze äſthetiſche Er- ziehung mit ihrer Wertſchätzung des Harmoniſchen, Heiteren und Sonnigen iſt nicht darauf angelegt, ſie irgendwie für den düſteren Ernſt des Lebens empfäng- lich zu machen. Elaſtiſch, wie Naturell und Erziehung ſie geſchaffen haben, gehen ſie mit einem leichten: „Shikata ga nai“, „Es läßt ſich nichts machen“, über das Unabänderliche bald zur Tagesordnung über.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/133
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/133>, abgerufen am 24.11.2024.