Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

einen frischmutigen Unternehmungsgeist. Bei größeren
Unternehmungen in Deutschland bedarf es erst geraumer
Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der
Gedanke an die Einführung einer elektrischen Straßen-
beleuchtung zum erstenmal auftaucht, so mag noch
mancher Tropfen Wasser den Rhein hinabfließen, ehe
der Plan zur schließlichen Ausführung kommt. In
Japan geht so etwas über Nacht. Eines schönen Tages
kommt man von einer dreiwöchentlichen Reise zurück
und sieht eine elektrische Straßenbahn durch die Straße
gezogen. Oder man schaut zum Fenster hinaus und
bemerkt mit Erstaunen den Schornstein einer Fabrik
vor sich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So-
zialdemokratie auf japanischen Boden verpflanzt, nicht
etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür bestände, sondern
damit man selbst das Neueste zu besitzen sich sagen darf.
Schon ist eine japanische Dampferlinie nach Antwerpen
eröffnet, und an das große Problem der Gold- und
Silberwährung, über welchem die alte und die neue
Welt sich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die
neueste Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der
Geschichte getreten ist, frischmutig die Hand an.

Japan ist das Land der Überraschungen. Es ist
unmöglich, hier den Propheten zu spielen. Wie über-
raschend kam der japanisch-chinesische Krieg! Kurz zu-
vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht,
ausgenommen die japanische Regierung selbst; und zwar
nicht bloß unter den Laien, sondern auch unter den
Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutsch-
land das ostasiatische Geschwader aufgelöst, um die
deutsche Vertretung unter den vierhundert Millionen
Menschen Ostasiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das
mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,

einen friſchmutigen Unternehmungsgeiſt. Bei größeren
Unternehmungen in Deutſchland bedarf es erſt geraumer
Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der
Gedanke an die Einführung einer elektriſchen Straßen-
beleuchtung zum erſtenmal auftaucht, ſo mag noch
mancher Tropfen Waſſer den Rhein hinabfließen, ehe
der Plan zur ſchließlichen Ausführung kommt. In
Japan geht ſo etwas über Nacht. Eines ſchönen Tages
kommt man von einer dreiwöchentlichen Reiſe zurück
und ſieht eine elektriſche Straßenbahn durch die Straße
gezogen. Oder man ſchaut zum Fenſter hinaus und
bemerkt mit Erſtaunen den Schornſtein einer Fabrik
vor ſich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So-
zialdemokratie auf japaniſchen Boden verpflanzt, nicht
etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür beſtände, ſondern
damit man ſelbſt das Neueſte zu beſitzen ſich ſagen darf.
Schon iſt eine japaniſche Dampferlinie nach Antwerpen
eröffnet, und an das große Problem der Gold- und
Silberwährung, über welchem die alte und die neue
Welt ſich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die
neueſte Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der
Geſchichte getreten iſt, friſchmutig die Hand an.

Japan iſt das Land der Überraſchungen. Es iſt
unmöglich, hier den Propheten zu ſpielen. Wie über-
raſchend kam der japaniſch-chineſiſche Krieg! Kurz zu-
vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht,
ausgenommen die japaniſche Regierung ſelbſt; und zwar
nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter den
Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutſch-
land das oſtaſiatiſche Geſchwader aufgelöſt, um die
deutſche Vertretung unter den vierhundert Millionen
Menſchen Oſtaſiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das
mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0118" n="104"/>
einen fri&#x017F;chmutigen Unternehmungsgei&#x017F;t. Bei größeren<lb/>
Unternehmungen in Deut&#x017F;chland bedarf es er&#x017F;t geraumer<lb/>
Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der<lb/>
Gedanke an die Einführung einer elektri&#x017F;chen Straßen-<lb/>
beleuchtung zum er&#x017F;tenmal auftaucht, &#x017F;o mag noch<lb/>
mancher Tropfen Wa&#x017F;&#x017F;er den Rhein hinabfließen, ehe<lb/>
der Plan zur &#x017F;chließlichen Ausführung kommt. In<lb/>
Japan geht &#x017F;o etwas über Nacht. Eines &#x017F;chönen Tages<lb/>
kommt man von einer dreiwöchentlichen Rei&#x017F;e zurück<lb/>
und &#x017F;ieht eine elektri&#x017F;che Straßenbahn durch die Straße<lb/>
gezogen. Oder man &#x017F;chaut zum Fen&#x017F;ter hinaus und<lb/>
bemerkt mit Er&#x017F;taunen den Schorn&#x017F;tein einer Fabrik<lb/>
vor &#x017F;ich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So-<lb/>
zialdemokratie auf japani&#x017F;chen Boden verpflanzt, nicht<lb/>
etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür be&#x017F;tände, &#x017F;ondern<lb/>
damit man &#x017F;elb&#x017F;t das Neue&#x017F;te zu be&#x017F;itzen &#x017F;ich &#x017F;agen darf.<lb/>
Schon i&#x017F;t eine japani&#x017F;che Dampferlinie nach Antwerpen<lb/>
eröffnet, und an das große Problem der Gold- und<lb/>
Silberwährung, über welchem die alte und die neue<lb/>
Welt &#x017F;ich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die<lb/>
neue&#x017F;te Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der<lb/>
Ge&#x017F;chichte getreten i&#x017F;t, fri&#x017F;chmutig die Hand an.</p><lb/>
        <p>Japan i&#x017F;t das Land der Überra&#x017F;chungen. Es i&#x017F;t<lb/>
unmöglich, hier den Propheten zu &#x017F;pielen. Wie über-<lb/>
ra&#x017F;chend kam der japani&#x017F;ch-chine&#x017F;i&#x017F;che Krieg! Kurz zu-<lb/>
vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht,<lb/>
ausgenommen die japani&#x017F;che Regierung &#x017F;elb&#x017F;t; und zwar<lb/>
nicht bloß unter den Laien, &#x017F;ondern auch unter den<lb/>
Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deut&#x017F;ch-<lb/>
land das o&#x017F;ta&#x017F;iati&#x017F;che Ge&#x017F;chwader aufgelö&#x017F;t, um die<lb/>
deut&#x017F;che Vertretung unter den vierhundert Millionen<lb/>
Men&#x017F;chen O&#x017F;ta&#x017F;iens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das<lb/>
mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0118] einen friſchmutigen Unternehmungsgeiſt. Bei größeren Unternehmungen in Deutſchland bedarf es erſt geraumer Zeit und Erwägung. Wenn in einer Stadt hier der Gedanke an die Einführung einer elektriſchen Straßen- beleuchtung zum erſtenmal auftaucht, ſo mag noch mancher Tropfen Waſſer den Rhein hinabfließen, ehe der Plan zur ſchließlichen Ausführung kommt. In Japan geht ſo etwas über Nacht. Eines ſchönen Tages kommt man von einer dreiwöchentlichen Reiſe zurück und ſieht eine elektriſche Straßenbahn durch die Straße gezogen. Oder man ſchaut zum Fenſter hinaus und bemerkt mit Erſtaunen den Schornſtein einer Fabrik vor ſich in die Lüfte ragen. Schon hat man die So- zialdemokratie auf japaniſchen Boden verpflanzt, nicht etwa, weil irgend ein Bedürfnis dafür beſtände, ſondern damit man ſelbſt das Neueſte zu beſitzen ſich ſagen darf. Schon iſt eine japaniſche Dampferlinie nach Antwerpen eröffnet, und an das große Problem der Gold- und Silberwährung, über welchem die alte und die neue Welt ſich vergeblich die Köpfe zerbrechen, legt die neueſte Welt, die mit Japan auf dem Schauplatz der Geſchichte getreten iſt, friſchmutig die Hand an. Japan iſt das Land der Überraſchungen. Es iſt unmöglich, hier den Propheten zu ſpielen. Wie über- raſchend kam der japaniſch-chineſiſche Krieg! Kurz zu- vor hätte niemand auch nur entfernt daran gedacht, ausgenommen die japaniſche Regierung ſelbſt; und zwar nicht bloß unter den Laien, ſondern auch unter den Diplomaten. Denn kaum ein Jahr zuvor hatte Deutſch- land das oſtaſiatiſche Geſchwader aufgelöſt, um die deutſche Vertretung unter den vierhundert Millionen Menſchen Oſtaſiens dem kleinen Kanonenboot Iltis, das mittlerweile verloren ging, und dem nicht größeren,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/118
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/118>, abgerufen am 24.11.2024.