Die nachfolgenden "Wanderungen" wollen dazu beitragen, ein wirkliches Verständnis des japanischen Volkes herbeizu- führen. Das Buch ist ein Versuch, ein Gesamtbild der japanischen Geisteskultur zu zeichnen und das "Yamato- damashii" d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners auch in seinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe sofort ge- geben ist, so besteht doch kein Grund, vor ihrer Lösung zu- rückzuschrecken. In Ostasien, wo die ganze geistig-sittliche Erziehung seit Jahrtausenden auf die ausgeprägte Heraus- bildung der Volksindividualität unter Vernachlässigung der Einzelindividualität hinausging, sind Charakter und Eigenart der Völker an sich schon viel deutlicher erkennbar als bei den Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte bessere Gelegen- heit bieten, diese Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf eines Missionars. Dieser mein Beruf hat mich veranlaßt, die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, sondern zu studieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der Litteratur und Geschichte des Volkes bekannt zu machen. Er hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen der Bevölkerung, vom Minister bis zum Bettelmann, gebracht und hat mir das schwer zugängliche Innere des japanischen Hauses und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur,
Vorwort.
Die nachfolgenden „Wanderungen“ wollen dazu beitragen, ein wirkliches Verſtändnis des japaniſchen Volkes herbeizu- führen. Das Buch iſt ein Verſuch, ein Geſamtbild der japaniſchen Geiſteskultur zu zeichnen und das „Yamato- damashii“ d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners auch in ſeinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe ſofort ge- geben iſt, ſo beſteht doch kein Grund, vor ihrer Löſung zu- rückzuſchrecken. In Oſtaſien, wo die ganze geiſtig-ſittliche Erziehung ſeit Jahrtauſenden auf die ausgeprägte Heraus- bildung der Volksindividualität unter Vernachläſſigung der Einzelindividualität hinausging, ſind Charakter und Eigenart der Völker an ſich ſchon viel deutlicher erkennbar als bei den Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte beſſere Gelegen- heit bieten, dieſe Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf eines Miſſionars. Dieſer mein Beruf hat mich veranlaßt, die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, ſondern zu ſtudieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der Litteratur und Geſchichte des Volkes bekannt zu machen. Er hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen der Bevölkerung, vom Miniſter bis zum Bettelmann, gebracht und hat mir das ſchwer zugängliche Innere des japaniſchen Hauſes und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur,
<TEI><text><front><pbfacs="#f0011"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g"><hirendition="#fr">Vorwort.</hi></hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Die nachfolgenden „Wanderungen“ wollen dazu beitragen,<lb/>
ein wirkliches Verſtändnis des japaniſchen Volkes herbeizu-<lb/>
führen. Das Buch iſt ein Verſuch, ein Geſamtbild der<lb/>
japaniſchen Geiſteskultur zu zeichnen und das <hirendition="#aq">„Yamato-<lb/>
damashii“</hi> d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners<lb/>
auch in ſeinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun<lb/>
aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe ſofort ge-<lb/>
geben iſt, ſo beſteht doch kein Grund, vor ihrer Löſung zu-<lb/>
rückzuſchrecken. In Oſtaſien, wo die ganze geiſtig-ſittliche<lb/>
Erziehung ſeit Jahrtauſenden auf die ausgeprägte Heraus-<lb/>
bildung der Volksindividualität unter Vernachläſſigung der<lb/>
Einzelindividualität hinausging, ſind Charakter und Eigenart<lb/>
der Völker an ſich ſchon viel deutlicher erkennbar als bei den<lb/>
Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte beſſere Gelegen-<lb/>
heit bieten, dieſe Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf<lb/>
eines Miſſionars. Dieſer mein Beruf hat mich veranlaßt,<lb/>
die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, ſondern zu<lb/>ſtudieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der<lb/>
Litteratur und Geſchichte des Volkes bekannt zu machen. Er<lb/>
hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen<lb/>
der Bevölkerung, vom Miniſter bis zum Bettelmann, gebracht<lb/>
und hat mir das ſchwer zugängliche Innere des japaniſchen<lb/>
Hauſes und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur,<lb/></p></div></front></text></TEI>
[0011]
Vorwort.
Die nachfolgenden „Wanderungen“ wollen dazu beitragen,
ein wirkliches Verſtändnis des japaniſchen Volkes herbeizu-
führen. Das Buch iſt ein Verſuch, ein Geſamtbild der
japaniſchen Geiſteskultur zu zeichnen und das „Yamato-
damashii“ d. i. das eigenartige Seelenleben des Japaners
auch in ſeinen verborgenen Tiefen zu ergründen. Wenn nun
aber hierin die große Schwierigkeit der Aufgabe ſofort ge-
geben iſt, ſo beſteht doch kein Grund, vor ihrer Löſung zu-
rückzuſchrecken. In Oſtaſien, wo die ganze geiſtig-ſittliche
Erziehung ſeit Jahrtauſenden auf die ausgeprägte Heraus-
bildung der Volksindividualität unter Vernachläſſigung der
Einzelindividualität hinausging, ſind Charakter und Eigenart
der Völker an ſich ſchon viel deutlicher erkennbar als bei den
Völkern Europas. Kein Beruf aber dürfte beſſere Gelegen-
heit bieten, dieſe Eigenart kennen zu lernen, als der Beruf
eines Miſſionars. Dieſer mein Beruf hat mich veranlaßt,
die Sprache des Landes nicht nur zu erlernen, ſondern zu
ſtudieren. Er hat es mir zur Pflicht gemacht, mich mit der
Litteratur und Geſchichte des Volkes bekannt zu machen. Er
hat mich in enge Berührung mit allen Schichten und Ständen
der Bevölkerung, vom Miniſter bis zum Bettelmann, gebracht
und hat mir das ſchwer zugängliche Innere des japaniſchen
Hauſes und der Familie geöffnet. Als Lehrer der Litteratur,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/11>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.