gewöhnliche Volk als überflüssig, und auch in den höheren Studien wurden meistens nur zwecklose Diskursionen und wertlose Aufsatzübungen gepflegt, die wenig praktischen Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut und Mißgeschick im Leben. Darum muß der Unter- richt so erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine unwissende Familie und in keiner Familie ein unwissen- des Glied gefunden werde". (Bolljahn.)
Das ganze Volksschulwesen steht unter staatlicher Kontrolle. Die Schulen sind Gemeindeanstalten; doch giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksschulen. Die Lehrer sind auf Seminarien vorgebildet; falls sie ein Seminar nicht besucht haben, müssen sie ihre Be- fähigung durch eine Prüfung nachweisen. Der Schul- zwang, der übrigens in der Praxis nicht strenge durch- geführt ist, ist auf vier Jahre beschränkt; aber die meisten Kinder besuchen den Unterricht aus freien Stücken länger. Die Grenzen der Schulzeit bilden das sechste und das vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskosten werden zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer- gehälter sind sehr gering. Die Unterrichtsgegenstände sind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht ersetzt wer- den soll, so ziemlich dieselben wie bei uns. Auch der deutsche Kindergarten ist eingeführt und mit großem Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der besuchenden Kinder ist in den Städten eine sehr große. Bemerkens- wert ist, daß man, wie in England und andern Ländern, auch in weiten Kreisen des japanischen Volkes das Wort Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht körperlich und geistig zurückgebliebener Kinder ist Für- sorge getroffen. Bei den Jahresschlußübungen der Blin- den- und Taubstummenanstalt in Tokyo habe ich mich
gewöhnliche Volk als überflüſſig, und auch in den höheren Studien wurden meiſtens nur zweckloſe Diskurſionen und wertloſe Aufſatzübungen gepflegt, die wenig praktiſchen Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut und Mißgeſchick im Leben. Darum muß der Unter- richt ſo erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine unwiſſende Familie und in keiner Familie ein unwiſſen- des Glied gefunden werde“. (Bolljahn.)
Das ganze Volksſchulweſen ſteht unter ſtaatlicher Kontrolle. Die Schulen ſind Gemeindeanſtalten; doch giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksſchulen. Die Lehrer ſind auf Seminarien vorgebildet; falls ſie ein Seminar nicht beſucht haben, müſſen ſie ihre Be- fähigung durch eine Prüfung nachweiſen. Der Schul- zwang, der übrigens in der Praxis nicht ſtrenge durch- geführt iſt, iſt auf vier Jahre beſchränkt; aber die meiſten Kinder beſuchen den Unterricht aus freien Stücken länger. Die Grenzen der Schulzeit bilden das ſechste und das vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskoſten werden zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer- gehälter ſind ſehr gering. Die Unterrichtsgegenſtände ſind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht erſetzt wer- den ſoll, ſo ziemlich dieſelben wie bei uns. Auch der deutſche Kindergarten iſt eingeführt und mit großem Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der beſuchenden Kinder iſt in den Städten eine ſehr große. Bemerkens- wert iſt, daß man, wie in England und andern Ländern, auch in weiten Kreiſen des japaniſchen Volkes das Wort Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht körperlich und geiſtig zurückgebliebener Kinder iſt Für- ſorge getroffen. Bei den Jahresſchlußübungen der Blin- den- und Taubſtummenanſtalt in Tokyo habe ich mich
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gewöhnliche Volk als überflüſſig, und auch in den höheren
Studien wurden meiſtens nur zweckloſe Diskurſionen und
wertloſe Aufſatzübungen gepflegt, die wenig praktiſchen
Nutzen brachten, und die Folgen davon waren Armut
und Mißgeſchick im Leben. Darum muß der Unter-
richt ſo erteilt werden, daß hinfort in keinem Orte eine
unwiſſende Familie und in keiner Familie ein unwiſſen-
des Glied gefunden werde“. (Bolljahn.)
Das ganze Volksſchulweſen ſteht unter ſtaatlicher
Kontrolle. Die Schulen ſind Gemeindeanſtalten; doch
giebt es noch eine große Zahl von Privatvolksſchulen.
Die Lehrer ſind auf Seminarien vorgebildet; falls ſie
ein Seminar nicht beſucht haben, müſſen ſie ihre Be-
fähigung durch eine Prüfung nachweiſen. Der Schul-
zwang, der übrigens in der Praxis nicht ſtrenge durch-
geführt iſt, iſt auf vier Jahre beſchränkt; aber die meiſten
Kinder beſuchen den Unterricht aus freien Stücken länger.
Die Grenzen der Schulzeit bilden das ſechste und das
vierzehnte Lebensjahr. Die Unterhaltungskoſten werden
zu einem großen Teil durch Schulgeld gedeckt. Die Lehrer-
gehälter ſind ſehr gering. Die Unterrichtsgegenſtände
ſind, mit Ausnahme der Religion, die in keiner Form
gelehrt wird, die aber durch Moralunterricht erſetzt wer-
den ſoll, ſo ziemlich dieſelben wie bei uns. Auch der
deutſche Kindergarten iſt eingeführt und mit großem
Beifall aufgenommen worden. Die Zahl der beſuchenden
Kinder iſt in den Städten eine ſehr große. Bemerkens-
wert iſt, daß man, wie in England und andern Ländern,
auch in weiten Kreiſen des japaniſchen Volkes das Wort
Kindergarten beibehalten hat. Auch für den Unterricht
körperlich und geiſtig zurückgebliebener Kinder iſt Für-
ſorge getroffen. Bei den Jahresſchlußübungen der Blin-
den- und Taubſtummenanſtalt in Tokyo habe ich mich
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/104>, abgerufen am 24.11.2024.
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