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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der
Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den
Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf-
nahme erhielten Beamtensöhne den Vorzug. So ent-
standen gewissermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es
ist überhaupt eine japanische Eigentümlichkeit, daß nicht
bloß Handwerk und Ackerbau, sondern auch Dichtkunst
und Malerei, Lehramt, Medizin und klassische Gelehr-
samkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, so daß
man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und
Gelehrten zu thun hat, sondern mit Dichter-, Künstler-
und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der technischen
Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, ist zweifellos;
aber ebenso sicher ist, daß man der Kunst und Wissen-
schaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte,
indem man die freien Töchter des Himmels in das be-
engende Geschirr des Handwerks spannte.

Etwas allgemeiner wurde die Bildung erst seit dem
zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus festen
Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus ist
ein aristokratisches System, welches sich in seinen philo-
sophischen Partien nur an die höheren Klassen wendet;
der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten
nach Buddha herausgestaltet wurde, ist eine echte Volks-
religion, durch und durch demokratisch, für die breiten
Massen des Volkes. Für diese hat er von jeher ge-
arbeitet und unter ihnen ist er heute noch eine Macht.
Der Buddhismus muß als der Vater der japanischen
Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver-
breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein.
Der Buddhismus bemächtigte sich der ganzen Bildung
und über dem Auswendiglernen buddhistischer Sutra
wurde die klassische chinesische Gelehrsamkeit vernach-

Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der
Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den
Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf-
nahme erhielten Beamtenſöhne den Vorzug. So ent-
ſtanden gewiſſermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es
iſt überhaupt eine japaniſche Eigentümlichkeit, daß nicht
bloß Handwerk und Ackerbau, ſondern auch Dichtkunſt
und Malerei, Lehramt, Medizin und klaſſiſche Gelehr-
ſamkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, ſo daß
man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und
Gelehrten zu thun hat, ſondern mit Dichter-, Künſtler-
und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der techniſchen
Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, iſt zweifellos;
aber ebenſo ſicher iſt, daß man der Kunſt und Wiſſen-
ſchaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte,
indem man die freien Töchter des Himmels in das be-
engende Geſchirr des Handwerks ſpannte.

Etwas allgemeiner wurde die Bildung erſt ſeit dem
zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus feſten
Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus iſt
ein ariſtokratiſches Syſtem, welches ſich in ſeinen philo-
ſophiſchen Partien nur an die höheren Klaſſen wendet;
der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten
nach Buddha herausgeſtaltet wurde, iſt eine echte Volks-
religion, durch und durch demokratiſch, für die breiten
Maſſen des Volkes. Für dieſe hat er von jeher ge-
arbeitet und unter ihnen iſt er heute noch eine Macht.
Der Buddhismus muß als der Vater der japaniſchen
Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver-
breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein.
Der Buddhismus bemächtigte ſich der ganzen Bildung
und über dem Auswendiglernen buddhiſtiſcher Sutra
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[86/0100] Länger als neun Jahre war keinem der Zutritt zu der Schule erlaubt; der Fleißige und Begabte konnte den Stoff in weit kürzerer Zeit bewältigen. Bei der Auf- nahme erhielten Beamtenſöhne den Vorzug. So ent- ſtanden gewiſſermaßen erbliche Beamtenfamilien. Es iſt überhaupt eine japaniſche Eigentümlichkeit, daß nicht bloß Handwerk und Ackerbau, ſondern auch Dichtkunſt und Malerei, Lehramt, Medizin und klaſſiſche Gelehr- ſamkeit vom Vater auf den Sohn forterbten, ſo daß man es hier nicht mit einzelnen Dichtern, Malern und Gelehrten zu thun hat, ſondern mit Dichter-, Künſtler- und Gelehrtenfamilien. Daß dabei in der techniſchen Fertigkeit eine Förderung erzielt wurde, iſt zweifellos; aber ebenſo ſicher iſt, daß man der Kunſt und Wiſſen- ſchaft den Charakter des Handwerksmäßigen aufprägte, indem man die freien Töchter des Himmels in das be- engende Geſchirr des Handwerks ſpannte. Etwas allgemeiner wurde die Bildung erſt ſeit dem zehnten Jahrhundert, nachdem der Buddhismus feſten Fuß im Lande gefaßt hatte. Der Konfuzianismus iſt ein ariſtokratiſches Syſtem, welches ſich in ſeinen philo- ſophiſchen Partien nur an die höheren Klaſſen wendet; der Buddhismus aber, wie er in den Jahrhunderten nach Buddha herausgeſtaltet wurde, iſt eine echte Volks- religion, durch und durch demokratiſch, für die breiten Maſſen des Volkes. Für dieſe hat er von jeher ge- arbeitet und unter ihnen iſt er heute noch eine Macht. Der Buddhismus muß als der Vater der japaniſchen Volksbildung betrachtet werden. Aber mit der Ver- breitung der Bildung trat zugleich eine Verflachung ein. Der Buddhismus bemächtigte ſich der ganzen Bildung und über dem Auswendiglernen buddhiſtiſcher Sutra wurde die klaſſiſche chineſiſche Gelehrſamkeit vernach-

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/100>, abgerufen am 24.11.2024.