Ueberlegen Sie endlich: wenn nun ich und je- dermann so leben wollte, was würde aus dem menschli- chen Geschlechte werden? "Jch habe mir thörichterweise eingebildet, die Gesellschaft könne dabey bestehen. Die Großen in Engelland und Frankreich, dachte ich, führen ja eine solche ungebundene Lebensart." Aber, antwor- tete ich, macht denn diese ungebundene zügellose Lebens- art der Großen in Engelland und Frankreich ihre Nation glücklich? Befinden sie selbst sich so wohl dabey, als sich der Mittelstand bey seiner gebundenern und gesetztern Aufführung befindet? Und machen endlich diese Großen die ganzen Gesellschaften aus, oder sind Sie nicht viel- mehr nur ein kleiner, und, wenn es auf die Zahl an- kommt, unbeträchtlicher Theil derselben?
Jch habe es meinen Lesern schon vorhin gesagt, daß der Graf Struensee während dieser ganzen Unterre- dung sehr gerührt und weich war. Jch sah es ihm an, wie empfindlich ihn der Anblick seines so übel geführten Lebens nur von dieser einen Seite demüthigte. Wie ist es doch möglich, sagte er, als wir diese Gewissensprü- fung geendigt hatten, daß ich von meinen vorigen Grund- sätzen so überzeugt seyn, und mich so habe vergessen kön- nen? Was müssen ihm nicht noch für Vergehungen ins Gedächtniß gekommen seyn, die nicht mir, sondern sei- nem Gewissen bekannt waren! Und wie hoch mußte nicht die Summe seiner Sünden itzt vor seinen Augen anwach- sen, da er auf einmahl viele Jahre eines ausschweifend geführten Lebens übersah! Je ernster er darüber nach- dachte, und je genauer er sich selbst kennen lernte, desto besser war es für ihn. Jch forderte ihn deswegen auf, in seiner Einsamkeit die ganze Kette seiner wollüstigen Synden noch einmahl durchzudenken. Um ihm diese Ar- beit zu erleichtern gab ich ihm meinen Aufsatz davon, und er versprach mir über alles sorgfältig nachzudenken, und
sich
Ueberlegen Sie endlich: wenn nun ich und je- dermann ſo leben wollte, was wuͤrde aus dem menſchli- chen Geſchlechte werden? “Jch habe mir thoͤrichterweiſe eingebildet, die Geſellſchaft koͤnne dabey beſtehen. Die Großen in Engelland und Frankreich, dachte ich, fuͤhren ja eine ſolche ungebundene Lebensart.„ Aber, antwor- tete ich, macht denn dieſe ungebundene zuͤgelloſe Lebens- art der Großen in Engelland und Frankreich ihre Nation gluͤcklich? Befinden ſie ſelbſt ſich ſo wohl dabey, als ſich der Mittelſtand bey ſeiner gebundenern und geſetztern Auffuͤhrung befindet? Und machen endlich dieſe Großen die ganzen Geſellſchaften aus, oder ſind Sie nicht viel- mehr nur ein kleiner, und, wenn es auf die Zahl an- kommt, unbetraͤchtlicher Theil derſelben?
Jch habe es meinen Leſern ſchon vorhin geſagt, daß der Graf Struenſee waͤhrend dieſer ganzen Unterre- dung ſehr geruͤhrt und weich war. Jch ſah es ihm an, wie empfindlich ihn der Anblick ſeines ſo uͤbel gefuͤhrten Lebens nur von dieſer einen Seite demuͤthigte. Wie iſt es doch moͤglich, ſagte er, als wir dieſe Gewiſſenspruͤ- fung geendigt hatten, daß ich von meinen vorigen Grund- ſaͤtzen ſo uͤberzeugt ſeyn, und mich ſo habe vergeſſen koͤn- nen? Was muͤſſen ihm nicht noch fuͤr Vergehungen ins Gedaͤchtniß gekommen ſeyn, die nicht mir, ſondern ſei- nem Gewiſſen bekannt waren! Und wie hoch mußte nicht die Summe ſeiner Suͤnden itzt vor ſeinen Augen anwach- ſen, da er auf einmahl viele Jahre eines ausſchweifend gefuͤhrten Lebens uͤberſah! Je ernſter er daruͤber nach- dachte, und je genauer er ſich ſelbſt kennen lernte, deſto beſſer war es fuͤr ihn. Jch forderte ihn deswegen auf, in ſeiner Einſamkeit die ganze Kette ſeiner wolluͤſtigen Synden noch einmahl durchzudenken. Um ihm dieſe Ar- beit zu erleichtern gab ich ihm meinen Aufſatz davon, und er verſprach mir uͤber alles ſorgfaͤltig nachzudenken, und
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Ueberlegen Sie endlich: wenn nun ich und je-
dermann ſo leben wollte, was wuͤrde aus dem menſchli-
chen Geſchlechte werden? “Jch habe mir thoͤrichterweiſe
eingebildet, die Geſellſchaft koͤnne dabey beſtehen. Die
Großen in Engelland und Frankreich, dachte ich, fuͤhren
ja eine ſolche ungebundene Lebensart.„ Aber, antwor-
tete ich, macht denn dieſe ungebundene zuͤgelloſe Lebens-
art der Großen in Engelland und Frankreich ihre Nation
gluͤcklich? Befinden ſie ſelbſt ſich ſo wohl dabey, als
ſich der Mittelſtand bey ſeiner gebundenern und geſetztern
Auffuͤhrung befindet? Und machen endlich dieſe Großen
die ganzen Geſellſchaften aus, oder ſind Sie nicht viel-
mehr nur ein kleiner, und, wenn es auf die Zahl an-
kommt, unbetraͤchtlicher Theil derſelben?
Jch habe es meinen Leſern ſchon vorhin geſagt,
daß der Graf Struenſee waͤhrend dieſer ganzen Unterre-
dung ſehr geruͤhrt und weich war. Jch ſah es ihm an,
wie empfindlich ihn der Anblick ſeines ſo uͤbel gefuͤhrten
Lebens nur von dieſer einen Seite demuͤthigte. Wie iſt
es doch moͤglich, ſagte er, als wir dieſe Gewiſſenspruͤ-
fung geendigt hatten, daß ich von meinen vorigen Grund-
ſaͤtzen ſo uͤberzeugt ſeyn, und mich ſo habe vergeſſen koͤn-
nen? Was muͤſſen ihm nicht noch fuͤr Vergehungen ins
Gedaͤchtniß gekommen ſeyn, die nicht mir, ſondern ſei-
nem Gewiſſen bekannt waren! Und wie hoch mußte nicht
die Summe ſeiner Suͤnden itzt vor ſeinen Augen anwach-
ſen, da er auf einmahl viele Jahre eines ausſchweifend
gefuͤhrten Lebens uͤberſah! Je ernſter er daruͤber nach-
dachte, und je genauer er ſich ſelbſt kennen lernte, deſto
beſſer war es fuͤr ihn. Jch forderte ihn deswegen auf,
in ſeiner Einſamkeit die ganze Kette ſeiner wolluͤſtigen
Synden noch einmahl durchzudenken. Um ihm dieſe Ar-
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er verſprach mir uͤber alles ſorgfaͤltig nachzudenken, und
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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/74>, abgerufen am 28.07.2024.
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