Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite



Vorurtheil, Jrrthum und Begierden, auch die stärksten
moralischen Bewegungsgründe unwirksam machen kön-
nen. Jnzwischen ist es doch nicht zu läugnen, daß das
menschliche Geschlecht im Ganzen betrachtet, seit der
Einführung der christlichen Religion, unendlich verbessert
worden ist, und daß sie also weit mehr Gewalt über das
menschliche Herz bewiesen hat, als Sie ihr zuzutrauen
scheinen.

Aber selbst gute Christen, setzte er hinzu, bege-
hen doch oft Sünden! "Soll und kann denn der Mensch
in dieser Welt ganz vollkommen werden? Und hat denn
das Christenthum das zur Absicht, Würkungen bey uns
hervorzubringen, die unsrer gegenwärtigen Verfassung
nach ganz unmöglich sind? Ueber dieß ist auch ein großer
Unterschied zwischen der Sünde eines wahren Christen,
denn von dem ist hier allein die Rede, und eines Laster-
haften. Bey jenem ist sie ein Fall, von dem er sich
wieder aufrichtet. Bey diesem wird sie beständig fortge-
setzt und erneuret. Und wenn endlich auch nur ein ein-
ziger Christ auf Erden wäre, dessen Wandel seinem Be-
kenntnisse Ehre machte, so wäre das schon genung, jeden
der ihn kennte, zur Prüfung der Religion dieses einzigen
Christen, und zur Annehmung derselben, wenn er sie
gegründet fände, zu verbinden.

O ich habe der Zweifel so viele, sagte er hierauf,
daß sie mir schwerlich alle werden gehoben werden können.
Er sagte dieß mit einer Miene, die seine Bekümmerniß
darüber ausdrückte. Beunruhigen Sie sich darüber
nicht, antwortete ich ihm. Jch bin gewiß, der größte
Theil ihrer Zweifel wird daraus entspringen, daß Sie
das Christenthum nicht kennen, und die Beweise dessel-
ben noch nie sorgfältig durgedacht haben. Sehen Sie
es nur erst von der rechten Seite an, und prüfen die

Gründe
C 2



Vorurtheil, Jrrthum und Begierden, auch die ſtaͤrkſten
moraliſchen Bewegungsgruͤnde unwirkſam machen koͤn-
nen. Jnzwiſchen iſt es doch nicht zu laͤugnen, daß das
menſchliche Geſchlecht im Ganzen betrachtet, ſeit der
Einfuͤhrung der chriſtlichen Religion, unendlich verbeſſert
worden iſt, und daß ſie alſo weit mehr Gewalt uͤber das
menſchliche Herz bewieſen hat, als Sie ihr zuzutrauen
ſcheinen.

Aber ſelbſt gute Chriſten, ſetzte er hinzu, bege-
hen doch oft Suͤnden! “Soll und kann denn der Menſch
in dieſer Welt ganz vollkommen werden? Und hat denn
das Chriſtenthum das zur Abſicht, Wuͤrkungen bey uns
hervorzubringen, die unſrer gegenwaͤrtigen Verfaſſung
nach ganz unmoͤglich ſind? Ueber dieß iſt auch ein großer
Unterſchied zwiſchen der Suͤnde eines wahren Chriſten,
denn von dem iſt hier allein die Rede, und eines Laſter-
haften. Bey jenem iſt ſie ein Fall, von dem er ſich
wieder aufrichtet. Bey dieſem wird ſie beſtaͤndig fortge-
ſetzt und erneuret. Und wenn endlich auch nur ein ein-
ziger Chriſt auf Erden waͤre, deſſen Wandel ſeinem Be-
kenntniſſe Ehre machte, ſo waͤre das ſchon genung, jeden
der ihn kennte, zur Pruͤfung der Religion dieſes einzigen
Chriſten, und zur Annehmung derſelben, wenn er ſie
gegruͤndet faͤnde, zu verbinden.

O ich habe der Zweifel ſo viele, ſagte er hierauf,
daß ſie mir ſchwerlich alle werden gehoben werden koͤnnen.
Er ſagte dieß mit einer Miene, die ſeine Bekuͤmmerniß
daruͤber ausdruͤckte. Beunruhigen Sie ſich daruͤber
nicht, antwortete ich ihm. Jch bin gewiß, der groͤßte
Theil ihrer Zweifel wird daraus entſpringen, daß Sie
das Chriſtenthum nicht kennen, und die Beweiſe deſſel-
ben noch nie ſorgfaͤltig durgedacht haben. Sehen Sie
es nur erſt von der rechten Seite an, und pruͤfen die

Gruͤnde
C 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0047" n="35"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Vorurtheil, Jrrthum und Begierden, auch die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten<lb/>
morali&#x017F;chen Bewegungsgru&#x0364;nde unwirk&#x017F;am machen ko&#x0364;n-<lb/>
nen. Jnzwi&#x017F;chen i&#x017F;t es doch nicht zu la&#x0364;ugnen, daß das<lb/>
men&#x017F;chliche Ge&#x017F;chlecht im Ganzen betrachtet, &#x017F;eit der<lb/>
Einfu&#x0364;hrung der chri&#x017F;tlichen Religion, unendlich verbe&#x017F;&#x017F;ert<lb/>
worden i&#x017F;t, und daß &#x017F;ie al&#x017F;o weit mehr Gewalt u&#x0364;ber das<lb/>
men&#x017F;chliche Herz bewie&#x017F;en hat, als Sie ihr zuzutrauen<lb/>
&#x017F;cheinen.</p><lb/>
        <p>Aber &#x017F;elb&#x017F;t gute Chri&#x017F;ten, &#x017F;etzte er hinzu, bege-<lb/>
hen doch oft Su&#x0364;nden! &#x201C;Soll und kann denn der Men&#x017F;ch<lb/>
in die&#x017F;er Welt ganz vollkommen werden? Und hat denn<lb/>
das Chri&#x017F;tenthum das zur Ab&#x017F;icht, Wu&#x0364;rkungen bey uns<lb/>
hervorzubringen, die un&#x017F;rer gegenwa&#x0364;rtigen Verfa&#x017F;&#x017F;ung<lb/>
nach ganz unmo&#x0364;glich &#x017F;ind? Ueber dieß i&#x017F;t auch ein großer<lb/>
Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen der Su&#x0364;nde eines wahren Chri&#x017F;ten,<lb/>
denn von dem i&#x017F;t hier allein die Rede, und eines La&#x017F;ter-<lb/>
haften. Bey jenem i&#x017F;t &#x017F;ie ein Fall, von dem er &#x017F;ich<lb/>
wieder aufrichtet. Bey die&#x017F;em wird &#x017F;ie be&#x017F;ta&#x0364;ndig fortge-<lb/>
&#x017F;etzt und erneuret. Und wenn endlich auch nur ein ein-<lb/>
ziger Chri&#x017F;t auf Erden wa&#x0364;re, de&#x017F;&#x017F;en Wandel &#x017F;einem Be-<lb/>
kenntni&#x017F;&#x017F;e Ehre machte, &#x017F;o wa&#x0364;re das &#x017F;chon genung, jeden<lb/>
der ihn kennte, zur Pru&#x0364;fung der Religion die&#x017F;es einzigen<lb/>
Chri&#x017F;ten, und zur Annehmung der&#x017F;elben, wenn er &#x017F;ie<lb/>
gegru&#x0364;ndet fa&#x0364;nde, zu verbinden.</p><lb/>
        <p>O ich habe der Zweifel &#x017F;o viele, &#x017F;agte er hierauf,<lb/>
daß &#x017F;ie mir &#x017F;chwerlich alle werden gehoben werden ko&#x0364;nnen.<lb/>
Er &#x017F;agte dieß mit einer Miene, die &#x017F;eine Beku&#x0364;mmerniß<lb/>
daru&#x0364;ber ausdru&#x0364;ckte. Beunruhigen Sie &#x017F;ich daru&#x0364;ber<lb/>
nicht, antwortete ich ihm. Jch bin gewiß, der gro&#x0364;ßte<lb/>
Theil ihrer Zweifel wird daraus ent&#x017F;pringen, daß Sie<lb/>
das Chri&#x017F;tenthum nicht kennen, und die Bewei&#x017F;e de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben noch nie &#x017F;orgfa&#x0364;ltig durgedacht haben. Sehen Sie<lb/>
es nur er&#x017F;t von der rechten Seite an, und pru&#x0364;fen die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Gru&#x0364;nde</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0047] Vorurtheil, Jrrthum und Begierden, auch die ſtaͤrkſten moraliſchen Bewegungsgruͤnde unwirkſam machen koͤn- nen. Jnzwiſchen iſt es doch nicht zu laͤugnen, daß das menſchliche Geſchlecht im Ganzen betrachtet, ſeit der Einfuͤhrung der chriſtlichen Religion, unendlich verbeſſert worden iſt, und daß ſie alſo weit mehr Gewalt uͤber das menſchliche Herz bewieſen hat, als Sie ihr zuzutrauen ſcheinen. Aber ſelbſt gute Chriſten, ſetzte er hinzu, bege- hen doch oft Suͤnden! “Soll und kann denn der Menſch in dieſer Welt ganz vollkommen werden? Und hat denn das Chriſtenthum das zur Abſicht, Wuͤrkungen bey uns hervorzubringen, die unſrer gegenwaͤrtigen Verfaſſung nach ganz unmoͤglich ſind? Ueber dieß iſt auch ein großer Unterſchied zwiſchen der Suͤnde eines wahren Chriſten, denn von dem iſt hier allein die Rede, und eines Laſter- haften. Bey jenem iſt ſie ein Fall, von dem er ſich wieder aufrichtet. Bey dieſem wird ſie beſtaͤndig fortge- ſetzt und erneuret. Und wenn endlich auch nur ein ein- ziger Chriſt auf Erden waͤre, deſſen Wandel ſeinem Be- kenntniſſe Ehre machte, ſo waͤre das ſchon genung, jeden der ihn kennte, zur Pruͤfung der Religion dieſes einzigen Chriſten, und zur Annehmung derſelben, wenn er ſie gegruͤndet faͤnde, zu verbinden. O ich habe der Zweifel ſo viele, ſagte er hierauf, daß ſie mir ſchwerlich alle werden gehoben werden koͤnnen. Er ſagte dieß mit einer Miene, die ſeine Bekuͤmmerniß daruͤber ausdruͤckte. Beunruhigen Sie ſich daruͤber nicht, antwortete ich ihm. Jch bin gewiß, der groͤßte Theil ihrer Zweifel wird daraus entſpringen, daß Sie das Chriſtenthum nicht kennen, und die Beweiſe deſſel- ben noch nie ſorgfaͤltig durgedacht haben. Sehen Sie es nur erſt von der rechten Seite an, und pruͤfen die Gruͤnde C 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/47
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/47>, abgerufen am 24.11.2024.