Glückseeligkeit aus der Vernunft erkennen, nicht gewiß ist, so muß Wahrheit Thorheit, und Jrrthum Weisheit seyn.
Sie wissen, wehrter Freund, wie die Erkenntniß dieser Wahrheiten meine Unruhe vermehrte. Es zeigten sich mir beständig neue Gegenstände, die durch die Lebhaf- tigkeit der nähern Eindrücke verborgen geblieben waren. Die Gleichgültigkeit meine Gesinnungen in Ordung zu bringen, die Verabsäumung jeder einzelnen Pflicht, die Nachlässigkeit das Gute zu thun, wozu ich Gelegenheit und Fähigkeit gehabt, das Uebel, so mein Beyspiel und die Ausbreitung meiner Grundsätze verursachen könnten, das Misfallen, so meine Vergehungen bey Gott verdienten: dieß alles erregte mir die empfindlichsten Schmerzen. Wie konnte ich solche lindern? Den Vorsatz faßte ich, den er- kannten Wahrheiten mich gemäß zu verhalten; meine Reue über die begangenen Fehler fühlte ich aufrichtig: aber konnte ich hoffen, das Vergangene zu ersetzen und auszulöschen? Es ist ungewiß, ob ein guter Vorsatz beständig gleich stark seyn, ob nicht neue Reizungen und Jrrthümer des Verstan- des ihn zernichten, ob das Andenken an Gott, das Gewissen, die Erinnerung des Schmerzens nicht geschwächt werde. Tugenden können den Schaden des Lasters nicht verhin- dern, noch weniger ersetzen. Die Zeit, die Gelegenheit, die vorigen Verhältnisse, waren für mich verlohren. Von dieser Seite konnte ich wenig Trost zu meiner Beruhigung finden. Die Betrachtung Gottes aus der Vernunft gab mir nicht mehrere Hoffnung zur Vergebung meiner Verge- bungen. Wenn ich mir auch noch so vortheilhafte Begriffe von seiner Güte machen wollte, daß er bey deren Beurthei- lung auf die Unvollkommenheit und Schwäche der mensch- lichen Natur Rücksicht nehmen werde: so zeigte sich mir doch zugleich seine Gerechtigkeit und Unveränderlichkeit, welche diesem widersprechen. Die Folgen der Handlungen geschehen im moralischen, wie im physischen, nach festgesetz- ten Regeln. Dieser Ordnung überläßt Gott das Schicksal
des
Gluͤckſeeligkeit aus der Vernunft erkennen, nicht gewiß iſt, ſo muß Wahrheit Thorheit, und Jrrthum Weisheit ſeyn.
Sie wiſſen, wehrter Freund, wie die Erkenntniß dieſer Wahrheiten meine Unruhe vermehrte. Es zeigten ſich mir beſtaͤndig neue Gegenſtaͤnde, die durch die Lebhaf- tigkeit der naͤhern Eindruͤcke verborgen geblieben waren. Die Gleichguͤltigkeit meine Geſinnungen in Ordung zu bringen, die Verabſaͤumung jeder einzelnen Pflicht, die Nachlaͤſſigkeit das Gute zu thun, wozu ich Gelegenheit und Faͤhigkeit gehabt, das Uebel, ſo mein Beyſpiel und die Ausbreitung meiner Grundſaͤtze verurſachen koͤnnten, das Misfallen, ſo meine Vergehungen bey Gott verdienten: dieß alles erregte mir die empfindlichſten Schmerzen. Wie konnte ich ſolche lindern? Den Vorſatz faßte ich, den er- kannten Wahrheiten mich gemaͤß zu verhalten; meine Reue uͤber die begangenen Fehler fuͤhlte ich aufrichtig: aber konnte ich hoffen, das Vergangene zu erſetzen und auszuloͤſchen? Es iſt ungewiß, ob ein guter Vorſatz beſtaͤndig gleich ſtark ſeyn, ob nicht neue Reizungen und Jrrthuͤmer des Verſtan- des ihn zernichten, ob das Andenken an Gott, das Gewiſſen, die Erinnerung des Schmerzens nicht geſchwaͤcht werde. Tugenden koͤnnen den Schaden des Laſters nicht verhin- dern, noch weniger erſetzen. Die Zeit, die Gelegenheit, die vorigen Verhaͤltniſſe, waren fuͤr mich verlohren. Von dieſer Seite konnte ich wenig Troſt zu meiner Beruhigung finden. Die Betrachtung Gottes aus der Vernunft gab mir nicht mehrere Hoffnung zur Vergebung meiner Verge- bungen. Wenn ich mir auch noch ſo vortheilhafte Begriffe von ſeiner Guͤte machen wollte, daß er bey deren Beurthei- lung auf die Unvollkommenheit und Schwaͤche der menſch- lichen Natur Ruͤckſicht nehmen werde: ſo zeigte ſich mir doch zugleich ſeine Gerechtigkeit und Unveraͤnderlichkeit, welche dieſem widerſprechen. Die Folgen der Handlungen geſchehen im moraliſchen, wie im phyſiſchen, nach feſtgeſetz- ten Regeln. Dieſer Ordnung uͤberlaͤßt Gott das Schickſal
des
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Gluͤckſeeligkeit aus der Vernunft erkennen, nicht gewiß iſt,
ſo muß Wahrheit Thorheit, und Jrrthum Weisheit ſeyn.
Sie wiſſen, wehrter Freund, wie die Erkenntniß
dieſer Wahrheiten meine Unruhe vermehrte. Es zeigten
ſich mir beſtaͤndig neue Gegenſtaͤnde, die durch die Lebhaf-
tigkeit der naͤhern Eindruͤcke verborgen geblieben waren.
Die Gleichguͤltigkeit meine Geſinnungen in Ordung zu
bringen, die Verabſaͤumung jeder einzelnen Pflicht, die
Nachlaͤſſigkeit das Gute zu thun, wozu ich Gelegenheit und
Faͤhigkeit gehabt, das Uebel, ſo mein Beyſpiel und die
Ausbreitung meiner Grundſaͤtze verurſachen koͤnnten, das
Misfallen, ſo meine Vergehungen bey Gott verdienten:
dieß alles erregte mir die empfindlichſten Schmerzen. Wie
konnte ich ſolche lindern? Den Vorſatz faßte ich, den er-
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uͤber die begangenen Fehler fuͤhlte ich aufrichtig: aber konnte
ich hoffen, das Vergangene zu erſetzen und auszuloͤſchen?
Es iſt ungewiß, ob ein guter Vorſatz beſtaͤndig gleich ſtark
ſeyn, ob nicht neue Reizungen und Jrrthuͤmer des Verſtan-
des ihn zernichten, ob das Andenken an Gott, das Gewiſſen,
die Erinnerung des Schmerzens nicht geſchwaͤcht werde.
Tugenden koͤnnen den Schaden des Laſters nicht verhin-
dern, noch weniger erſetzen. Die Zeit, die Gelegenheit,
die vorigen Verhaͤltniſſe, waren fuͤr mich verlohren. Von
dieſer Seite konnte ich wenig Troſt zu meiner Beruhigung
finden. Die Betrachtung Gottes aus der Vernunft gab
mir nicht mehrere Hoffnung zur Vergebung meiner Verge-
bungen. Wenn ich mir auch noch ſo vortheilhafte Begriffe
von ſeiner Guͤte machen wollte, daß er bey deren Beurthei-
lung auf die Unvollkommenheit und Schwaͤche der menſch-
lichen Natur Ruͤckſicht nehmen werde: ſo zeigte ſich mir
doch zugleich ſeine Gerechtigkeit und Unveraͤnderlichkeit,
welche dieſem widerſprechen. Die Folgen der Handlungen
geſchehen im moraliſchen, wie im phyſiſchen, nach feſtgeſetz-
ten Regeln. Dieſer Ordnung uͤberlaͤßt Gott das Schickſal
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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/306>, abgerufen am 28.07.2024.
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