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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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einer Wahrheit der gesunden Vernunft? Wenn das
Christenthum lehrte, die Gottheit Christi, oder sein
göttliches Wesen, sey von der Gottheit oder dem göttli-
chen Wesen des Vaters unterschieden, so würde folgen,
daß zwey Götter wären. Und dieß stritte mit der von
der Vernunft erkannten und durch die Offenbahrung be-
stätigten Wahrheit von der Einheit Gottes. Aber die
christliche Religion behauptet, Gott, der Vater, habe
eben das Wesen, welches er selbst hat, seinem Sohne
mitgetheilt. Folglich sind nicht mehrere Götter, sondern
nur Ein Gott. Die Möglichkeit davon begreift die Ver-
nunft nicht, da sie keinen ähnlichen Fall in der Natur
kennt, in welchem zwey völlig einerley oder dasselbe We-
sen hätten. Doch kann sie auch nicht beweisen, daß es
unmöglich sey. Also ist ihr diese Lehre ein Geheimniß,
welches sie verbunden ist, auf die Autorität desjenigen,
der es ihr offenbahrt hat, zu verehren. -- Sie sehen
nun von selbst, daß die Annahme dieser Wahrheit,
Christus ist Gott, eben die Vortheile gewährt, die wir
davon zu erwarten haben, wenn wir glauben, daß Chri-
stus Gottes Sohn ist. Jch wiederhohlte hier mit eini-
gen Zusätzen dasjenige, was ich in der letzten Unterre-
dung darüber gesagt hatte. -- Gegen dieß alles hatte
der Graf nichts einzuwenden.

Nun fuhr ich fort. Die Bibel lehrt nun auch,
daß Christus zugleich wahrer Mensch sey. Das wird
jedermann ohne Widerspruch zugestehen. Er ward von
einem Weibe gebohren, er ward von allen, die ihn per-
söhnlich kannten, für einen Menschen erkannt: er hatte
alle wesentlichen Stücke des Menschen, Leib und Seele
mit allen Giedern, Kräften und Fähigkeiten, die dazu
gehören; er war den Menschen selbst in ihren wesentli-
chen Schwachheiten gleich: nur in dem einigen Stücke
war er von den übrigen Menschen unterschieden, daß er

ohne



einer Wahrheit der geſunden Vernunft? Wenn das
Chriſtenthum lehrte, die Gottheit Chriſti, oder ſein
goͤttliches Weſen, ſey von der Gottheit oder dem goͤttli-
chen Weſen des Vaters unterſchieden, ſo wuͤrde folgen,
daß zwey Goͤtter waͤren. Und dieß ſtritte mit der von
der Vernunft erkannten und durch die Offenbahrung be-
ſtaͤtigten Wahrheit von der Einheit Gottes. Aber die
chriſtliche Religion behauptet, Gott, der Vater, habe
eben das Weſen, welches er ſelbſt hat, ſeinem Sohne
mitgetheilt. Folglich ſind nicht mehrere Goͤtter, ſondern
nur Ein Gott. Die Moͤglichkeit davon begreift die Ver-
nunft nicht, da ſie keinen aͤhnlichen Fall in der Natur
kennt, in welchem zwey voͤllig einerley oder daſſelbe We-
ſen haͤtten. Doch kann ſie auch nicht beweiſen, daß es
unmoͤglich ſey. Alſo iſt ihr dieſe Lehre ein Geheimniß,
welches ſie verbunden iſt, auf die Autoritaͤt desjenigen,
der es ihr offenbahrt hat, zu verehren. — Sie ſehen
nun von ſelbſt, daß die Annahme dieſer Wahrheit,
Chriſtus iſt Gott, eben die Vortheile gewaͤhrt, die wir
davon zu erwarten haben, wenn wir glauben, daß Chri-
ſtus Gottes Sohn iſt. Jch wiederhohlte hier mit eini-
gen Zuſaͤtzen dasjenige, was ich in der letzten Unterre-
dung daruͤber geſagt hatte. — Gegen dieß alles hatte
der Graf nichts einzuwenden.

Nun fuhr ich fort. Die Bibel lehrt nun auch,
daß Chriſtus zugleich wahrer Menſch ſey. Das wird
jedermann ohne Widerſpruch zugeſtehen. Er ward von
einem Weibe gebohren, er ward von allen, die ihn per-
ſoͤhnlich kannten, fuͤr einen Menſchen erkannt: er hatte
alle weſentlichen Stuͤcke des Menſchen, Leib und Seele
mit allen Giedern, Kraͤften und Faͤhigkeiten, die dazu
gehoͤren; er war den Menſchen ſelbſt in ihren weſentli-
chen Schwachheiten gleich: nur in dem einigen Stuͤcke
war er von den uͤbrigen Menſchen unterſchieden, daß er

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[162/0174] einer Wahrheit der geſunden Vernunft? Wenn das Chriſtenthum lehrte, die Gottheit Chriſti, oder ſein goͤttliches Weſen, ſey von der Gottheit oder dem goͤttli- chen Weſen des Vaters unterſchieden, ſo wuͤrde folgen, daß zwey Goͤtter waͤren. Und dieß ſtritte mit der von der Vernunft erkannten und durch die Offenbahrung be- ſtaͤtigten Wahrheit von der Einheit Gottes. Aber die chriſtliche Religion behauptet, Gott, der Vater, habe eben das Weſen, welches er ſelbſt hat, ſeinem Sohne mitgetheilt. Folglich ſind nicht mehrere Goͤtter, ſondern nur Ein Gott. Die Moͤglichkeit davon begreift die Ver- nunft nicht, da ſie keinen aͤhnlichen Fall in der Natur kennt, in welchem zwey voͤllig einerley oder daſſelbe We- ſen haͤtten. Doch kann ſie auch nicht beweiſen, daß es unmoͤglich ſey. Alſo iſt ihr dieſe Lehre ein Geheimniß, welches ſie verbunden iſt, auf die Autoritaͤt desjenigen, der es ihr offenbahrt hat, zu verehren. — Sie ſehen nun von ſelbſt, daß die Annahme dieſer Wahrheit, Chriſtus iſt Gott, eben die Vortheile gewaͤhrt, die wir davon zu erwarten haben, wenn wir glauben, daß Chri- ſtus Gottes Sohn iſt. Jch wiederhohlte hier mit eini- gen Zuſaͤtzen dasjenige, was ich in der letzten Unterre- dung daruͤber geſagt hatte. — Gegen dieß alles hatte der Graf nichts einzuwenden. Nun fuhr ich fort. Die Bibel lehrt nun auch, daß Chriſtus zugleich wahrer Menſch ſey. Das wird jedermann ohne Widerſpruch zugeſtehen. Er ward von einem Weibe gebohren, er ward von allen, die ihn per- ſoͤhnlich kannten, fuͤr einen Menſchen erkannt: er hatte alle weſentlichen Stuͤcke des Menſchen, Leib und Seele mit allen Giedern, Kraͤften und Faͤhigkeiten, die dazu gehoͤren; er war den Menſchen ſelbſt in ihren weſentli- chen Schwachheiten gleich: nur in dem einigen Stuͤcke war er von den uͤbrigen Menſchen unterſchieden, daß er ohne

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/174>, abgerufen am 24.11.2024.