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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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einander, und sagen mir überhaupt, wo Sie mehr ge-
sunde Vernunft, Wahrheitsliebe und Redlichkeit gefun-
den haben, im Voltaire, Boulanger und ihres gleichen,
oder im Jerusalem, Reimarus, Bonnet, Leß, u. s. w.
Er antwortete: sehr viel mehr in den letztern. Voltaire,
setzte er hinzu, und andere solche Schriftsteller, sind nur
durch ihren Witz gefährlich und einnehmend.

Wenn es nun aber auch wahr wäre, fuhr ich
fort, was Boulanger vorgiebt, daß die Furcht die Mut-
ter der Religion bey den alten Völkern gewesen sey, so
folgt doch daraus noch nicht, daß die Religion eine leere
Einbildung ist. Konnten gleich jene natürlichen Uebel
aus natürlichen Ursachen erklärt werden, so konnte ja
darum doch ein höchstes Wesen sie brauchen, sein Mis-
fallen an dem moralischen Uebel zu beweisen. Und fürch-
teten sich die alten Völker vor dem höchsten Wesen, weil
sie jene Begebenheiten für Strafgerichte desselben hielten,
so mußten ihnen die ersten Begriffe aller Religion, von
dem Daseyn des höchsten Wesens, von der Sündlichkeit
der Menschen, von der Beleidigung des höchsten Wesens
durch die Sünde, und von der Nothwendigkeit dasselbe
zu versöhnen, doch schon zum Voraus bekannt seyn.
Sie hatten also in gewissem Verstande Religion, ehe sie
sich fürchteten: die Furcht trieb sie nur an die Religion
anzuwenden.

Als ich den Grafen hierauf verlassen mußte,
sagte er mir noch, daß er wünsche dem Grafen Brandt
selbst von seinen itzigen Gesinnungen gegen Religion und
Frömmigkeit Nachricht geben zu können. Er wolle es
entweder im Gerichte thun, wenn er etwa noch mit dem-
selben sollte confrontirt werden, woran er aber doch
zweifle, weil ihre beyderseitigen Aussagen mit einander
übereinstimmten: oder er wolle um Erlaubniß bitten, ihn

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einander, und ſagen mir uͤberhaupt, wo Sie mehr ge-
ſunde Vernunft, Wahrheitsliebe und Redlichkeit gefun-
den haben, im Voltaire, Boulanger und ihres gleichen,
oder im Jeruſalem, Reimarus, Bonnet, Leß, u. ſ. w.
Er antwortete: ſehr viel mehr in den letztern. Voltaire,
ſetzte er hinzu, und andere ſolche Schriftſteller, ſind nur
durch ihren Witz gefaͤhrlich und einnehmend.

Wenn es nun aber auch wahr waͤre, fuhr ich
fort, was Boulanger vorgiebt, daß die Furcht die Mut-
ter der Religion bey den alten Voͤlkern geweſen ſey, ſo
folgt doch daraus noch nicht, daß die Religion eine leere
Einbildung iſt. Konnten gleich jene natuͤrlichen Uebel
aus natuͤrlichen Urſachen erklaͤrt werden, ſo konnte ja
darum doch ein hoͤchſtes Weſen ſie brauchen, ſein Mis-
fallen an dem moraliſchen Uebel zu beweiſen. Und fuͤrch-
teten ſich die alten Voͤlker vor dem hoͤchſten Weſen, weil
ſie jene Begebenheiten fuͤr Strafgerichte deſſelben hielten,
ſo mußten ihnen die erſten Begriffe aller Religion, von
dem Daſeyn des hoͤchſten Weſens, von der Suͤndlichkeit
der Menſchen, von der Beleidigung des hoͤchſten Weſens
durch die Suͤnde, und von der Nothwendigkeit daſſelbe
zu verſoͤhnen, doch ſchon zum Voraus bekannt ſeyn.
Sie hatten alſo in gewiſſem Verſtande Religion, ehe ſie
ſich fuͤrchteten: die Furcht trieb ſie nur an die Religion
anzuwenden.

Als ich den Grafen hierauf verlaſſen mußte,
ſagte er mir noch, daß er wuͤnſche dem Grafen Brandt
ſelbſt von ſeinen itzigen Geſinnungen gegen Religion und
Froͤmmigkeit Nachricht geben zu koͤnnen. Er wolle es
entweder im Gerichte thun, wenn er etwa noch mit dem-
ſelben ſollte confrontirt werden, woran er aber doch
zweifle, weil ihre beyderſeitigen Auſſagen mit einander
uͤbereinſtimmten: oder er wolle um Erlaubniß bitten, ihn

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[133/0145] einander, und ſagen mir uͤberhaupt, wo Sie mehr ge- ſunde Vernunft, Wahrheitsliebe und Redlichkeit gefun- den haben, im Voltaire, Boulanger und ihres gleichen, oder im Jeruſalem, Reimarus, Bonnet, Leß, u. ſ. w. Er antwortete: ſehr viel mehr in den letztern. Voltaire, ſetzte er hinzu, und andere ſolche Schriftſteller, ſind nur durch ihren Witz gefaͤhrlich und einnehmend. Wenn es nun aber auch wahr waͤre, fuhr ich fort, was Boulanger vorgiebt, daß die Furcht die Mut- ter der Religion bey den alten Voͤlkern geweſen ſey, ſo folgt doch daraus noch nicht, daß die Religion eine leere Einbildung iſt. Konnten gleich jene natuͤrlichen Uebel aus natuͤrlichen Urſachen erklaͤrt werden, ſo konnte ja darum doch ein hoͤchſtes Weſen ſie brauchen, ſein Mis- fallen an dem moraliſchen Uebel zu beweiſen. Und fuͤrch- teten ſich die alten Voͤlker vor dem hoͤchſten Weſen, weil ſie jene Begebenheiten fuͤr Strafgerichte deſſelben hielten, ſo mußten ihnen die erſten Begriffe aller Religion, von dem Daſeyn des hoͤchſten Weſens, von der Suͤndlichkeit der Menſchen, von der Beleidigung des hoͤchſten Weſens durch die Suͤnde, und von der Nothwendigkeit daſſelbe zu verſoͤhnen, doch ſchon zum Voraus bekannt ſeyn. Sie hatten alſo in gewiſſem Verſtande Religion, ehe ſie ſich fuͤrchteten: die Furcht trieb ſie nur an die Religion anzuwenden. Als ich den Grafen hierauf verlaſſen mußte, ſagte er mir noch, daß er wuͤnſche dem Grafen Brandt ſelbſt von ſeinen itzigen Geſinnungen gegen Religion und Froͤmmigkeit Nachricht geben zu koͤnnen. Er wolle es entweder im Gerichte thun, wenn er etwa noch mit dem- ſelben ſollte confrontirt werden, woran er aber doch zweifle, weil ihre beyderſeitigen Auſſagen mit einander uͤbereinſtimmten: oder er wolle um Erlaubniß bitten, ihn beſuchen J 3

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/145>, abgerufen am 24.11.2024.