hülflichen Staat durch seine mechanische Anord- nung immer mehr, anstatt ihn zu beleben und zu beflügeln; er verfährt wie ein schlechter Arzt, der die Gesundheit des Menschen durch allerlei Pal- liative handwerksmäßig zusammensetzen will, wäh- rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken und zu beleben, und jedem nothwendigen Or- gane Luft und Kraft zu geben ist, damit das Ganze sich behaupten könne.
Jede Krankheit des Staates, wie des Men- schen, ist Herrschaft eines einzelnen, einseitigen Organs über die andern, oder auf Kosten des Ganzen, des Organismus. Wie wäre es, wenn es den Gliedern des menschlichen Körpers ein- fallen wollte, jedes für sich einen abgesonderten, ausschließenden Theil der Lebenskraft zu verlan- gen und zu behaupten? Könnte der menschliche Körper auch nur einen Augenblick bestehen ohne die Nationalität, kraft deren jede einzelne Muskel, jede Ader, jeder Nerve sein Privateigenthum un- aufhörlich wieder dem Ganzen unterwirft und hingiebt? -- Die alten Römer haben den Ver- gleich des Staates mit dem menschlichen Körper verstanden: sollte er jetzt nicht mehr passen, nach- dem wir ganz andre Beispiele von der Hinge- bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale, an die Menschheit erlebt haben, als die Römer
huͤlflichen Staat durch ſeine mechaniſche Anord- nung immer mehr, anſtatt ihn zu beleben und zu befluͤgeln; er verfaͤhrt wie ein ſchlechter Arzt, der die Geſundheit des Menſchen durch allerlei Pal- liative handwerksmaͤßig zuſammenſetzen will, waͤh- rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken und zu beleben, und jedem nothwendigen Or- gane Luft und Kraft zu geben iſt, damit das Ganze ſich behaupten koͤnne.
Jede Krankheit des Staates, wie des Men- ſchen, iſt Herrſchaft eines einzelnen, einſeitigen Organs uͤber die andern, oder auf Koſten des Ganzen, des Organismus. Wie waͤre es, wenn es den Gliedern des menſchlichen Koͤrpers ein- fallen wollte, jedes fuͤr ſich einen abgeſonderten, ausſchließenden Theil der Lebenskraft zu verlan- gen und zu behaupten? Koͤnnte der menſchliche Koͤrper auch nur einen Augenblick beſtehen ohne die Nationalitaͤt, kraft deren jede einzelne Muskel, jede Ader, jeder Nerve ſein Privateigenthum un- aufhoͤrlich wieder dem Ganzen unterwirft und hingiebt? — Die alten Roͤmer haben den Ver- gleich des Staates mit dem menſchlichen Koͤrper verſtanden: ſollte er jetzt nicht mehr paſſen, nach- dem wir ganz andre Beiſpiele von der Hinge- bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale, an die Menſchheit erlebt haben, als die Roͤmer
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huͤlflichen Staat durch ſeine mechaniſche Anord-
nung immer mehr, anſtatt ihn zu beleben und zu
befluͤgeln; er verfaͤhrt wie ein ſchlechter Arzt, der
die Geſundheit des Menſchen durch allerlei Pal-
liative handwerksmaͤßig zuſammenſetzen will, waͤh-
rend ja nur die innere Lebenskraft zu wecken
und zu beleben, und jedem nothwendigen Or-
gane Luft und Kraft zu geben iſt, damit das
Ganze ſich behaupten koͤnne.
Jede Krankheit des Staates, wie des Men-
ſchen, iſt Herrſchaft eines einzelnen, einſeitigen
Organs uͤber die andern, oder auf Koſten des
Ganzen, des Organismus. Wie waͤre es, wenn
es den Gliedern des menſchlichen Koͤrpers ein-
fallen wollte, jedes fuͤr ſich einen abgeſonderten,
ausſchließenden Theil der Lebenskraft zu verlan-
gen und zu behaupten? Koͤnnte der menſchliche
Koͤrper auch nur einen Augenblick beſtehen ohne
die Nationalitaͤt, kraft deren jede einzelne Muskel,
jede Ader, jeder Nerve ſein Privateigenthum un-
aufhoͤrlich wieder dem Ganzen unterwirft und
hingiebt? — Die alten Roͤmer haben den Ver-
gleich des Staates mit dem menſchlichen Koͤrper
verſtanden: ſollte er jetzt nicht mehr paſſen, nach-
dem wir ganz andre Beiſpiele von der Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze, Nationale,
an die Menſchheit erlebt haben, als die Roͤmer
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Berlin, 1809, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst02_1809/166>, abgerufen am 27.11.2024.
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