Der Streit der Theoretiker und Praktiker, wie ich ihn hier dargestellt habe, ist nicht zu schlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht, weil Beide ganz verschiedene Gegenstände im Auge haben: der Eine ein ganz unbegrenztes Gedankenbild; der Andre eine steife, abgeschlos- sene Wirklichkeit: der Eine den entschiedensten Widerwillen gegen alle Schranken; der Andre eine eben so entschiedene Abneigung gegen alle Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schrit- te seines idealischen Weges seine Forderungen an die Menschen und sein Pochen, auf die Al- leinherrschaft der Vernunft ungemessener wird; der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tage seiner Geschäftsführung, die Nothwendigkeit nothwen- diger, und die Gewohnheit mächtiger erscheint. Ferner verändern sich auf den ganz verschiede- nen Wegen ihre Organisationen, ihre anderwei- tigen Ansichten vom Leben und vom Menschen so, daß Beziehungen und Verständniß unmög- lich werden, und bei jeder Berührung Beide ein- ander nur in ihrer Einseitigkeit bestärken können.
Dennoch aber stützt sich der Theoretiker auf die nicht zurückzuweisende Autorität des Geistes und der Vernunft; der Praktiker auf das eben so ehrwürdige Recht der physischen Bedürfnisse und der Erfahrung. -- Und zum Regieren der Völ-
Der Streit der Theoretiker und Praktiker, wie ich ihn hier dargeſtellt habe, iſt nicht zu ſchlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht, weil Beide ganz verſchiedene Gegenſtaͤnde im Auge haben: der Eine ein ganz unbegrenztes Gedankenbild; der Andre eine ſteife, abgeſchloſ- ſene Wirklichkeit: der Eine den entſchiedenſten Widerwillen gegen alle Schranken; der Andre eine eben ſo entſchiedene Abneigung gegen alle Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schrit- te ſeines idealiſchen Weges ſeine Forderungen an die Menſchen und ſein Pochen, auf die Al- leinherrſchaft der Vernunft ungemeſſener wird; der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tage ſeiner Geſchaͤftsfuͤhrung, die Nothwendigkeit nothwen- diger, und die Gewohnheit maͤchtiger erſcheint. Ferner veraͤndern ſich auf den ganz verſchiede- nen Wegen ihre Organiſationen, ihre anderwei- tigen Anſichten vom Leben und vom Menſchen ſo, daß Beziehungen und Verſtaͤndniß unmoͤg- lich werden, und bei jeder Beruͤhrung Beide ein- ander nur in ihrer Einſeitigkeit beſtaͤrken koͤnnen.
Dennoch aber ſtuͤtzt ſich der Theoretiker auf die nicht zuruͤckzuweiſende Autoritaͤt des Geiſtes und der Vernunft; der Praktiker auf das eben ſo ehrwuͤrdige Recht der phyſiſchen Beduͤrfniſſe und der Erfahrung. — Und zum Regieren der Voͤl-
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Der Streit der Theoretiker und Praktiker,
wie ich ihn hier dargeſtellt habe, iſt nicht zu
ſchlichten, und zwar vornehmlich deshalb nicht,
weil Beide ganz verſchiedene Gegenſtaͤnde im
Auge haben: der Eine ein ganz unbegrenztes
Gedankenbild; der Andre eine ſteife, abgeſchloſ-
ſene Wirklichkeit: der Eine den entſchiedenſten
Widerwillen gegen alle Schranken; der Andre
eine eben ſo entſchiedene Abneigung gegen alle
Freiheit: der Theoretiker, weil auf jedem Schrit-
te ſeines idealiſchen Weges ſeine Forderungen
an die Menſchen und ſein Pochen, auf die Al-
leinherrſchaft der Vernunft ungemeſſener wird;
der Praktiker, weil ihm, mit jedem Tage ſeiner
Geſchaͤftsfuͤhrung, die Nothwendigkeit nothwen-
diger, und die Gewohnheit maͤchtiger erſcheint.
Ferner veraͤndern ſich auf den ganz verſchiede-
nen Wegen ihre Organiſationen, ihre anderwei-
tigen Anſichten vom Leben und vom Menſchen
ſo, daß Beziehungen und Verſtaͤndniß unmoͤg-
lich werden, und bei jeder Beruͤhrung Beide ein-
ander nur in ihrer Einſeitigkeit beſtaͤrken koͤnnen.
Dennoch aber ſtuͤtzt ſich der Theoretiker auf die
nicht zuruͤckzuweiſende Autoritaͤt des Geiſtes und
der Vernunft; der Praktiker auf das eben ſo
ehrwuͤrdige Recht der phyſiſchen Beduͤrfniſſe und
der Erfahrung. — Und zum Regieren der Voͤl-
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/57>, abgerufen am 22.11.2024.
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