Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wich- tigste ist dennoch übersehen und verfehlt.
Alle nur gedenkbare Elemente des Staates, alle Gesetze, Institutionen u. s. w., sind nur von Einer Seite sichtbar und zu berechnen: jedes für sich hat wieder sein eignes persönliches, geheim- nißvolles Leben und seine eigenthümliche Bewe- gung; die erschöpfendste Erkenntniß desselben in todter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der Staatskunst muß erst wieder in die gemeine Wirklichkeit, zu der Erfahrung, zurück; er muß das Gesetz, die Institution, eine Zeit lang im freien Leben und in freier Bewegung betrachten; es muß sich in ihm ein Gefühl von dem Werth und der Bedeutung, wie von der wahren An- wendung des Gesetzes bilden, was mehr sagen will, als der gründlichste Uhrmacherverstand von der Sache. Wie alle höheren Wissenschaften, so auch die Staatswissenschaften: sie wollen erlebt, nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das heißt nun, wie Burke es verlangt, "die Jahr- hunderte fragen," und hinein construiren in die Wissenschaft, während die Systeme der gelehrten Handwerker in unseren Zeiten -- sie mögen an die Geschichte appelliren, wie sie wollen -- doch nur aus Einem Momente geschöpft, wie für Einen Moment berechnet sind. --
Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wich- tigſte iſt dennoch uͤberſehen und verfehlt.
Alle nur gedenkbare Elemente des Staates, alle Geſetze, Inſtitutionen u. ſ. w., ſind nur von Einer Seite ſichtbar und zu berechnen: jedes fuͤr ſich hat wieder ſein eignes perſoͤnliches, geheim- nißvolles Leben und ſeine eigenthuͤmliche Bewe- gung; die erſchoͤpfendſte Erkenntniß deſſelben in todter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der Staatskunſt muß erſt wieder in die gemeine Wirklichkeit, zu der Erfahrung, zuruͤck; er muß das Geſetz, die Inſtitution, eine Zeit lang im freien Leben und in freier Bewegung betrachten; es muß ſich in ihm ein Gefuͤhl von dem Werth und der Bedeutung, wie von der wahren An- wendung des Geſetzes bilden, was mehr ſagen will, als der gruͤndlichſte Uhrmacherverſtand von der Sache. Wie alle hoͤheren Wiſſenſchaften, ſo auch die Staatswiſſenſchaften: ſie wollen erlebt, nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das heißt nun, wie Burke es verlangt, „die Jahr- hunderte fragen,” und hinein conſtruiren in die Wiſſenſchaft, waͤhrend die Syſteme der gelehrten Handwerker in unſeren Zeiten — ſie moͤgen an die Geſchichte appelliren, wie ſie wollen — doch nur aus Einem Momente geſchoͤpft, wie fuͤr Einen Moment berechnet ſind. —
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Handgreifliche alles ergriffen. Aber das Wich-
tigſte iſt dennoch uͤberſehen und verfehlt.
Alle nur gedenkbare Elemente des Staates,
alle Geſetze, Inſtitutionen u. ſ. w., ſind nur von
Einer Seite ſichtbar und zu berechnen: jedes fuͤr
ſich hat wieder ſein eignes perſoͤnliches, geheim-
nißvolles Leben und ſeine eigenthuͤmliche Bewe-
gung; die erſchoͤpfendſte Erkenntniß deſſelben in
todter Ruhe bedeutet nichts. Der Lehrling der
Staatskunſt muß erſt wieder in die gemeine
Wirklichkeit, zu der Erfahrung, zuruͤck; er muß
das Geſetz, die Inſtitution, eine Zeit lang im
freien Leben und in freier Bewegung betrachten;
es muß ſich in ihm ein Gefuͤhl von dem Werth
und der Bedeutung, wie von der wahren An-
wendung des Geſetzes bilden, was mehr ſagen
will, als der gruͤndlichſte Uhrmacherverſtand von
der Sache. Wie alle hoͤheren Wiſſenſchaften, ſo
auch die Staatswiſſenſchaften: ſie wollen erlebt,
nicht bloß erkannt und erlernt werden. Das
heißt nun, wie Burke es verlangt, „die Jahr-
hunderte fragen,” und hinein conſtruiren in die
Wiſſenſchaft, waͤhrend die Syſteme der gelehrten
Handwerker in unſeren Zeiten — ſie moͤgen an
die Geſchichte appelliren, wie ſie wollen — doch
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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/56>, abgerufen am 22.11.2024.
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