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Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809.

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sie in der Exposition dieser Streitsache ihr Ge-
wicht in die Schale des Schwächeren werfen:
um so lebhafter, gleichmäßiger und gegenseitiger
wird der Streit, um so glänzender kann die
Gerechtigkeit triumphiren. Man verstehe mich
nicht falsch! Das todte, abgeschlossene Gesetz und
die starre Prozeßform, sage ich, heben häufig dieses
Gleichgewicht auf, indem sie eine oder die andre
Parthei nöthigen, ihre Sache in eine zu enge
Gesetzform einzuspannen; das Eigenthümlichste
der Sache geht in diesem juristischen Umgießen
verloren; anstatt freien Streites und Vertra-
ges zwischen dem Lebendigen und dem Lebendigen,
wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwägen
des Todten gegen das Todte.

Ich liebe das Symbol der Wage in den
Händen der Justiz nicht, weil es ein unvollstän-
diges Bild ist. In dieser Manier der Justiz er-
scheinen alle Rechte wie Sachen, die Justiz selbst
wie ein Verstandeshandwerk, während sie bestän-
dig die Person und das Persönliche im Auge ha-
ben, und, wie jede Beschäftigung freier und leben-
diger Menschen, eine Kunst seyn sollte. -- Des-
halb habe ich das Wesen des lebendigen Gesetzes
und der lebendigen Prozeßform neulich darzustel-
len gesucht, und von dem Richter verlangt, daß er
allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-

ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge-
wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen:
um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger
wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die
Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich
nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und
die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes
Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre
Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge
Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte
der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen
verloren; anſtatt freien Streites und Vertra-
ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen,
wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen
des Todten gegen das Todte.

Ich liebe das Symbol der Wage in den
Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn-
diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er-
ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt
wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn-
dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha-
ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben-
diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des-
halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes
und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel-
len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er
allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-

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[190/0224] ſie in der Expoſition dieſer Streitſache ihr Ge- wicht in die Schale des Schwaͤcheren werfen: um ſo lebhafter, gleichmaͤßiger und gegenſeitiger wird der Streit, um ſo glaͤnzender kann die Gerechtigkeit triumphiren. Man verſtehe mich nicht falſch! Das todte, abgeſchloſſene Geſetz und die ſtarre Prozeßform, ſage ich, heben haͤufig dieſes Gleichgewicht auf, indem ſie eine oder die andre Parthei noͤthigen, ihre Sache in eine zu enge Geſetzform einzuſpannen; das Eigenthuͤmlichſte der Sache geht in dieſem juriſtiſchen Umgießen verloren; anſtatt freien Streites und Vertra- ges zwiſchen dem Lebendigen und dem Lebendigen, wird die Gerechtigkeit zu einem kalten Abwaͤgen des Todten gegen das Todte. Ich liebe das Symbol der Wage in den Haͤnden der Juſtiz nicht, weil es ein unvollſtaͤn- diges Bild iſt. In dieſer Manier der Juſtiz er- ſcheinen alle Rechte wie Sachen, die Juſtiz ſelbſt wie ein Verſtandeshandwerk, waͤhrend ſie beſtaͤn- dig die Perſon und das Perſoͤnliche im Auge ha- ben, und, wie jede Beſchaͤftigung freier und leben- diger Menſchen, eine Kunſt ſeyn ſollte. — Des- halb habe ich das Weſen des lebendigen Geſetzes und der lebendigen Prozeßform neulich darzuſtel- len geſucht, und von dem Richter verlangt, daß er allenthalben in doppelter Form 1) als Vermitt-

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Zitationshilfe: Müller, Adam Heinrich: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Berlin, 1809, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mueller_staatskunst01_1809/224>, abgerufen am 22.11.2024.